Rock im Park 2004:"Auffallen ist hier alles, und assig sein ist cool"

Ein Festival der alten Herren: Motörhead, Judas Priest und die Toten Hosen rocken bei "Rock im Park" - Zehntausende junge Besucher sind begeistert.

Von Uwe Ritzer

Die Legenden leben - dem Rockhimmel sei Dank. Eine Ewigkeit Rock'n'Roll hat sich in ihre Gesichter gekerbt, wie in das von "Motörhead"-Sänger Lemmy Kilmister, inzwischen 58 Jahre alt. Oder sie sind insgesamt rundlicher geworden, wie Rob Halford.

Auffallen bei Rock im Park; dpa

Auffallen um jeden Preis bei "Rock im Park"

(Foto: Foto: dpa)

Wo einst der Schweiß stattliche Haarpracht verklebte, lässt er heute eine weitgehend von Natur geschaffene Glatze im Scheinwerferlicht glänzen.

Ansonsten singt, schreit und lebt der Frontmann von "Judas Priest" Heavy Metal wie in den Siebzigern und Achtzigern, woran sich aber altersbedingt nur eine verschwindende Minderheit unter den Tausenden Fans auf dem Nürnberger Zeppelinfeld überhaupt erinnern kann.

Während die älteren Semester nostalgisch grübeln, ob die Edelmetaller auf der mehrfamilienhausgroßen "Centerstage" tatsächlich noch die Kracher aus ihrer Jugend sind, erstickt Kathrin Meyer etwaig aufkeimende Vergangenheitsverklärerei im Keim. "So lange gibt es die schon? Wahnsinn, wie die alten Typen abrocken! Und jetzt tanzen dazu die 17-Jährigen voll ab."

Der Müll türmt

Sie selbst ist drei Jahre älter, eine junge Frau vom Land. Mit "mindestens 20 Kumpels" ist sie schon einen Tag vor Beginn von "Rock im Park" aus ihrem 17-Einwohner-Ort Erlingsdorf die 50 Kilometer nach Nürnberg gefahren, um drei Tage lang "Party und Spaß zu haben, Musik zu hören und in vier Nächten höchstens so viel zu schlafen wie sonst in zwei".

Nämlich auf einem improvisierten Wiesen-Campingplatz, den der Regen schnell zur Schlammwüste gemacht hat, und wo sich zwischen eng aneinander gepferchten Zelten der Müll türmt.

Zum dritten Mal besucht die angehende Studentin das Festival, und sie inhaliert hier das Kontrastprogramm zum fränkischen Dorfleben daheim. "Weite-Welt-Feeling" nennt Kathrin das: Deutsche mit allen erdenklichen Dialekten, Österreicher, Schweizer, Franzosen, ja sogar Kanadier hat sie schon getroffen.

Wie viele Fans überhaupt zu "Rock im Park" kamen, das gestern Abend mit einem Auftritt der kalifornischen Superstars "Red Hot Chili Peppers" zu Ende ging, darüber gehen die Meinungen auseinander. Die Polizei wunderte sich über das ausgebliebene Anreise-Chaos und sprach von weit weniger Besuchern als 2003. Die Zahl von 30.000 geisterte herum, was die Veranstalter heftig dementierten. 40.000 seien es gewesen, was auf dem Level vergangener Jahre läge.

Sollten es doch weniger gewesen sein, dürfte das kaum am Programm gelegen haben. Mit Blick auf jüngeres Publikum musikalisch seit 2003 härter ausgerichtet als früher, bot "Rock im Park", wo die Künstler einmal mehr abwechselnd mit dem zeitgleichen "Rock am Ring" in der Eifel auftraten, eine ansehnliche Stilvielfalt.

"Auffallen ist hier alles, und assig sein ist cool"

Gerade noch ließ man sich von pathetisch-gefühlvollen Rockballaden von "Evanescence" treiben, da scheint gleich im Anschluss Jonathan Davis von den US-Brutalo-Rockern "Korn" einen Weltrekord zu versuchen: Wie schaffe ich es, binnen kürzester Zeit möglichst oft und laut "fuckin'" in mein Spezialmikrophon mit dem stilisierten nackten Frauenkörper zu gröhlen?

Kathrin verzichtet auf dieses Spektakel. Einen grünen Tetra-Pak mit badischem Landwein für 95 Cent den Liter in der Hand, hüpft und tanzt sie mit ihrer Clique synchron vor der "Alternastage", der zweiten von drei Festivalbühnen.

Zwischendurch "pogen" sie auch; so heißt es, wenn man sich beim Tanzen mit Anlauf anspringt. Zur Musik der "Sportfreunde Stiller" zum Beispiel, die zwar ein solides Konzert geben, mit den vom Nieselregen durchnässten und in der Kälte frierenden Fans aber merkwürdig ungelenk umgehen.

"Ein bisschen auf die Kleineren aufpassen"

Beim Auftritt der Berliner Kultband "Wir sind Helden" kurz zuvor kam es zu Massenansturm und beängstigendem Gedränge, weshalb Frontfrau Judith Holofernes besorgt bat, "ein bisschen auf die Kleineren aufzupassen". Im hellen Faltenröckchen rippte sie ihre rote Gitarre und sang: "Du kennst mich nicht wieder."

Das könnten auch viele der Fans von sich behaupten, die im Zivilleben brav, gesittet und unauffällig daherkommen, bei "Rock im Park" aber rund um die Uhr abhausen. "Auffallen ist hier alles, und assig sein ist cool", erklärt Kathrin, die 20-Jährige.

"Keinen stört's, wenn man dreckig ist, der Pullover zehn Löcher hat oder man verschiedene Strümpfe trägt." Drei Tage Aussteigen mit dem 106-Euro-Festivalticket. Da wirft manch einer schon mal im Übermut Dixie-Toiletten um. Oder man schreit nachts im Chor nach "Helga".

Eine Art Festivalruf, dessen Sinn niemand genau kennt. Oder man schläft in einem echten Sarg wie der Typ, dessen Foto durch die Lokalpresse ging. Und was den allgegenwärtigen Alkohol angeht: Auch auf dem Oktoberfest benehmen sich manche daneben. Die Polizei meldete jedenfalls bis gestern Nachmittag keine gravierenden Zwischenfälle.

Es gab einmal eine Zeit, da marschierten auf dem Zeppelinfeld auch Menschenmassen auf, und dabei ging es geometrisch geordnet zu. Der NS-Staat zelebrierte seine Reichsparteitage, wo rund 70 Jahre später, nicht zum ersten Mal übrigens, anstelle von Hassparolen und Führerkult Lebenslust und Rockmusik triumphieren.

Grandiose Geschichte, offene Zukunft

Eine Band greift das genussvoll auf: Die "Toten Hosen". Campino & Co. scheint es ernst zu sein mit der Begrüßungsfloskel, man spiele "besonders gerne in Nürnberg und auf diesem ehemaligen Kirmesgelände". Denn das folgende Zwei-Stunden-Konzert geht als grandios in die Geschichte des Festivals ein, dessen Zukunft offen scheint.

2005 wird es wieder "Rock im Park geben", 2006 aber steht das Gelände neben dem Frankenstadion der Fußball-WM wegen nicht zur Verfügung. Noch ist unklar, wo das Ausweichareal liegen wird.

Wohl angesichts des Regens und des Schlamms damals wie diesmal schrieb eine Agentur von "Woodstock-Flair" bei "Rock im Park", was purer Unsinn ist. Woodstock 1969 war spontan und eine weitere musikalische Initialzündung für den gesellschaftspolitischen Aufbruch einer ganzen Generation.

"Rock im Park" ist ein exakt durchorganisiertes und perfekt kommerzialisiertes Festival. Mal ganz abgesehen davon, dass viele der jungen RIP-Fans für die Legende Woodstock viel zu jung sind.

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