Nicht im Gebirge packte Robert Macfarlane die Begeisterung fürs Bergsteigen, sondern in der Bibliothek des Großvaters. Als Zwölfjähriger verbrachte er den Sommer bei ihm und der Großmutter im schottischen Hochland. Der liebste Raum war ihm der Wintergarten: "Es war zwar Sommer, aber dennoch war das Innere des Hauses von der kalten, mineralischen Luft des Hochlands erfüllt, und jede Oberfläche, die man berührte, fühlte sich kühl an", schreibt Macfarlane in seinem Buch "Berge im Kopf".
Als Macfarlane in jenem Sommer Ende der Achtzigerjahre eines Nachts nicht schlafen konnte, zog er aus einem Bücherstapel im Flur - die Bibliothek des Großvaters verteilte sich über das gesamte Haus - "mehr oder weniger zufällig einen großen grünen Band heraus" und setzte sich mit dem Buch auf die breite, steinerne Fensterbank im Wintergarten, den die Großeltern das Sonnenzimmer nannten. Nicht im Sonnen-, sondern im Mondlicht begann der Jugendliche zu lesen in George Ingle Finchs "Der Kampf um den Everest".
Finch beschreibt darin George Mallorys letzten, für ihn sowie Andrew Irvine tödlichen Versuch, den Gipfel des Mount Everest zu erreichen. Robert Macfarlane, so berichtet er, ist begeistert von dem Heldenmut und dem Abenteuergeist der Männer: "In einem Anfall von Lesewut, wie er wegen der dafür erforderlichen Zeit nur in der Kindheit möglich ist, plünderte ich die Bibliothek meines Großvaters und hatte gegen Ende des Sommers etwa ein Dutzend der berühmtesten Expeditionsberichte von den Bergen der Welt und den beiden Polen gelesen."
Die Faszination für die Berge entspringt allein der menschlichen Fantasie
Dass die meisten dieser Geschichten tragisch endeten, störte den Zwölfjährigen nicht, im Gegenteil: "Ich mochte diese grässlichen Details." Er nahm, was er las, für bare Münze. Und sah, was er sehen wollte: "unglaublich tapfere Männer, die hinaustraten in das verheißungsvoll glitzernde Licht des Unbekannten". Was er damals nicht erkannte - wie sollte er auch -, waren der wahl- und auch kombinationsweise Rassismus, Sexismus, Snobismus und Egoismus der Abenteurer.
Später ist Robert Macfarlane selbst ein ambitionierter Bergsteiger geworden, und er ist längst einer der bedeutendsten zeitgenössischen Vertreter des Nature Writing. Von der Naivität des Zwölfjährigen ist nichts mehr übrig. So ehern die Berge auch vor einem aufragen mögen: Die Faszination für sie läge nicht allein in der Natur der Sache, sondern vor allem im Auge des Betrachters. "Alle emotional besetzten Eigenschaften, die sie besitzen, werden ihnen von der menschlichen Fantasie zugeschrieben."
Die Geschichte dieser emotionalen Zuschreibungen ist eine veränderliche, wechselvolle. Macfarlane folgt ihr, beginnend im 17. Jahrhundert, durch die Zeit, und er landet schließlich bei einem Mann, bei dem vieles davon kulminiert ist: bei George Mallory. Der Engländer hat zwischen 1921 und 1924 in drei Expeditionen versucht, den Gipfel des Mount Everest zu erreichen. Vor allem bei der dritten Expedition wurde aus der Gefahr, am höchsten Berg der Welt das Leben zu verlieren, für Mallory beinahe eine Gewissheit. So jedenfalls lesen sich die letzten Briefe, die er an seine Frau Ruth geschrieben hat.
Der Tod am Mount Everest wird zum heroischen Akt umgedeutet
Mit heutigen Vernunftbegriffen ist Mallorys Ehrgeiz nicht beizukommen. Die Zeitgenossen in seiner Heimat hatten überwiegend jedoch einen anderen Blick auf die Tragödie, das belegt Robert Macfarlane beispielhaft und kommt deshalb zu dem Schluss: "Der Tod von Mallory und Irvine schien für fast niemanden sinnlos gewesen zu sein - das fruchtlose Davonstehlen eines Familienvaters und das eines anderen, jungen intelligenten Mannes aus Oxford für nichts Bedeutenderes als die Höhe." Außer, fügt er beinahe schon zynisch hinzu, für die Angehörigen und Freunde der beiden Männer.
Als die Nachricht um die Welt ging, dass Mallory und Irvine am Everest umgekommen sein müssen, da sie vom Versuch der Gipfelbesteigung nicht ins Basislager zurückgekehrt waren - der Leichnam Mallorys wurde erst 1999 geborgen, der Irvines ist bis heute nicht aufgefunden -, setze eine groteske Glorifizierung ein. Norman Collie, Schriftführer der National Geographic Society, schickte ein Telegramm ins Basislager, in dem er eine "heroische Leistung" und "ruhmreiche Tode" pries. In der Times erschien ein Nachruf, in dem behauptet wurde, dass die beiden Männer kein besseres Ende für sich hätten wählen können. Francis Younghusband, seinerzeit Präsident der National Geographic Society, argumentierte: "Von den beiden Alternativen, zum dritten Mal umzudrehen oder zu sterben, war die letztere für Mallory wahrscheinlich die einfachste. Die Agonie der ersten wäre mehr, als er als Mann, Bergsteiger und Künstler hätte ertragen können."
Es geht Robert Macfarlane in seinem Buch also nicht darum zu schildern, wie Menschen Berge bestiegen haben, "sondern was sie sich darunter vorgestellt haben, was sie für die Berge empfunden und wie sie die Berge wahrgenommen haben". In letzter Konsequenz also: Wie es möglich ist, dass Berge so vehement von Menschen Besitz ergreifen, dass sie zum zentralen Lebensinhalt werden. An einer Stelle spricht Macfarlane von einer Umkehrung der Schwerkraft beim Bergsteigen. Sie würde zu einer Anziehungskraft mutieren, die einen immer weiter nach oben zieht.
Hinzu kommt der Druck aus dem Tal. Wenn ein in der Szene der Extrembergsteiger und Abenteurer so einflussreicher Mann wie Francis Younghusband den Tod am Berg mehr schätzt als das Scheitern einer Expedition und ihn gar zu einer ästhetischen, künstlerischen Kategorie erhebt, dann hat sich das Vordringen der Menschen in die lebensfeindlichen Regionen der Erde von allen erkenntnisgetriebenen Motivationen gelöst. Dann geht es rein um den Triumph, mag er objektiv noch so unnütz sein.
Geologische Forschungen in den Alpen brachten kirchliche Dogmen ins Wanken
Das war zuvor teilweise anders. Bis ins 20. Jahrhundert hinein war die Geologie eine treibende Kraft des Bergsteigens. Einer, der diese Neugier angefacht hat, war Thomas Burnet in seinem Werk "The Sacred Theory of the Earth" aus dem Jahr 1681 - mutmaßlich das meistgelesene Geologiebuch des 17. Jahrhunderts, so Macfarlane. Burnet stand vor der heiklen Aufgabe, gegen die Kirche zu argumentieren und deren biblische Vorstellung vom Alter der Erde, das auf etwa 6000 Jahre taxiert worden war. Als Horace Bénédict de Saussure 1787 den Mont Blanc bestiegen hat, war dies explizit als wissenschaftliche Expedition deklariert. Er machte geologische Beobachtungen und führte barometrische und thermometrische Messungen durch. Selbst die drei Everest-Expeditionen in den 1920er-Jahren wurden zum Teil als wissenschaftliche Unternehmungen finanziert, um geologische und botanische Studienergebnisse zu erlangen. Nur trat dieses Ziel vollkommen in den Hintergrund.
Zum wissenschaftlichen Erkenntnisinteresse gesellte sich jedoch auch bereits zu Saussures Zeit eine Angstlust an der Terra incognita, den unerforschten Regionen der Erde. Die Angst vor der Gefahr, so Robert Macfarlane, wurde um ihrer selbst willen attraktiv: "Man erkannte, dass das Risiko die Belohnung schon in sich birgt." Ein Risiko einzugehen und die damit verbundene Angst wurde zu etwas Begehrenswertem und letztlich zu einer Ware, schlussfolgert Macfarlane. Summa summarum war das Bergsteigen also immer Ausdruck historischer Verhältnisse und mehr doch wechselnder Ideengeschichten.