Süddeutsche Zeitung

Rhône bei Avignon:Willkommen in der großen Familie

Stadt, Land, Fluss: Gegenüber von Avignon erstreckt sich die Île de la Barthelasse in der Rhône. Hier suchen die Städter das einfache Landleben.

Von Stefan Fischer

Wann sie zur Pensionswirtin geworden ist, weiß Olga Manguin nicht. "Wir hatten immer schon Gäste", sagt die 76-Jährige, eine Dame mit rauchiger, warmer Stimme. Irgendwann jedenfalls haben sie und ihr Mann dann nicht mehr nur Freunde beherbergt in ihrem Haus auf der Île de la Barthelasse, einer Flussinsel in der Rhône auf der Höhe von Avignon, sondern auch Fremde. Aus diesen sind inzwischen längst ebenfalls Freunde geworden.

Als vor einigen Monaten Olga Manguins Mann gestorben ist, haben all ihre Stammgäste angerufen, um sie zu trösten, sagt die Provençalin. Und ein befreundetes Paar aus Düsseldorf, das seit 25 Jahren bei den Manguins Urlaub macht, ist angereist und einige Zeit bei ihr geblieben, "damit ich nicht so alleine bin", sagt Olga Manguin: "C'est la famille." Die Gäste sind Teil der Familie.

Viel scheint sich tatsächlich nicht geändert zu haben, seit aus dem steinernen Wohnhaus, das im 18. Jahrhundert gebaut wurde und früher einmal eine kleine Farm war, L'Anastasy geworden ist. Ein Landhaus mit fünf Gästezimmern mitten auf dieser lang gestreckten Rhône-Insel, ein wenig versteckt zwischen Feldern und Wäldern, und doch gut zu finden.

Sie schätzt das Familiäre, den Wert von Freundschaften über alles und hat sogar zwei Bücher geschrieben, "Pourquoi avons-nous fait l'amour" und "La tarte aux petits riens", die sich unter anderem mit der Familiengeschichte befassen. Entsprechend bedauert Olga Manguin, dass das Familiäre etwas verloren gehe. "Die Ruhe, die Lebensqualität, das Vogelgezwitscher", das sei alles genauso wie früher. Nur der Zusammenhalt lasse nach. Wobei die beinahe acht Kilometer lange Île de la Barthelasse ihren ländlichen Charakter allemal bewahrt hat, obwohl sie letztlich Teil einer kleinen Großstadt ist - Avignon hat immerhin knapp 100 000 Einwohner. Denn auf der Insel werden seit längerer Zeit schon keine Neubauten mehr gestattet.

Mit Edelbränden locken sie Touristen aus ganz Europa

Olga Manguin kennt die Île de la Barthelasse schon lange, sie hat in die Familie Manguin eingeheiratet, deren berühmtestes Mitglied der Maler Henri Manguin (1874-1949) ist, ein Fauvist. Er hat sich in den Vierzigerjahren ein Atelier eingerichtet drüben in Avignon. Sein Sohn Claude schätzte das Landleben mehr, er ist auf die Insel gezogen, hat Obst angebaut und 1957 die Destillerie Manguin gegründet. Sie existiert heute noch, gleich vis-à-vis von L'Anastasy. Seit drei Jahren betreibt sie Emmanuel Hanquiez; ein Enkel des Gründers, Philippe Manguin, arbeitet als Brenner für ihn. Sie locken mit ihren Edelbränden - zumindest die Birnen dafür wachsen auf der Insel - Touristen aus ganz Europa an.

Olga Manguin hat mit der Destillerie direkt nichts zu schaffen, sie hat mit ihrem Mann zusammen lange in der Gastronomie gearbeitet. Einige Jahre haben sie in Berlin gelebt und dort den Jazz-Club Blue Note betrieben. Später hatte sie das Café des Nadtes in Avignon, in der Rue Saint-Etienne, gleich hinter dem Hotel Europe. Vor allem während des Theaterfestivals in Avignon im Juli wohnen dort viele Regisseure und Schauspieler.

Olga Manguin hatte auch im Café des Nadtes Stammgäste, Heiner Müller kam regelmäßig, "Pina Bausch hat ihren Geburtstag bei uns gefeiert", erinnert sie sich. Sie kennt heute noch viele Theaterleute, regelmäßig besucht sie auch ihre Tochter, die in Paris am Theater Bouffes du Nord arbeitet. Zu den Aufführungen des Festivals in Avignon schafft sie es nicht: "Ich kann nicht weg, am späten Nachmittag kommen meine Gäste zurück von ihren Ausflügen, ich koche für sie." Aber auch so bekommt sie "das schöne Ambiente" der Veranstaltung mit.

Noch heute fährt sie jeden Vormittag hinüber in die Stadt: "Das ist mein Kontakt mit der Zivilisation." Dieses Nebeneinander von Urbanität und Landleben macht die Île de la Barthelasse besonders. Wenn man so will, ist Avignon doppelt umschlossen: Die mittelalterliche Stadtmauer ist nach wie vor intakt, nicht zuletzt aufgrund der Universität ist das Zentrum quirlig, aber auch beengt. Darum herum hat sich eine zweite Stadt entwickelt, die vor allem aus Sozialsiedlungen, Gewerbegebieten, Vororten und Ausfallstraßen besteht, ohne Charme, ohne Flair.

Nur nach Westen, zur Rhône hin, gibt es eine Brücke hinaus ins Ländliche; und das ist wörtlich zu nehmen. Über den Pont Édouard Daladier gelangt man innerhalb weniger Minuten hinüber auf die Flussinsel, selbst zu Fuß ist man schnell drüben, denn vieles konzentriert sich am südlichen Ende der Barthelasse: der große Campingplatz, das Freibad, das Restaurant Le Bercail, von dessen Terrasse man einen schönen Blick hat auf den Pont d'Avignon und auf den Domfelsen mit dem Papstpalast.

Weitere Informationen

Anreise: Mit dem Auto von Marseille (1 h) oder Lyon (2 h) nach Avignon. Die Stadt hat einen TGV-Bahnhof.

Unterkunft: L'Anastasy, 817, Chemin des Poiriers, DZ mit Frühstück ab 93 Euro. Tel.: 0033/490 85 55 94, E-Mail: lanastasy@wanadoo.fr

Bauernläden: Manguin Distillerie, 784 Chemin des Poiriers, www.manguin.com, E-Mail: info@manguin.com, Tel.: 0033/4 90 82 62 29. Geöffnet Mo.-Fr. 10-12 Uhr und 14-17 Uhr, samstags 10-12 Uhr. Hofladen La Reboule, 1250 Chemin de la Barthelasse, Tel.: 0033/490 85 55 94. E-Mail: la.reboule.cappeau@orange.fr. Mo.-Sa. 10-12.15 Uhr und 16-19.30 Uhr. Mazet des Papes, 634 Chemin du Mazet à Sauveterre, Tel.: 0033/490 02 22 35.www.mazet-des-papes.fr

Weitere Auskünfte: www.provenceguide.com

Nicht weit davon entfernt betreibt Numa Cappeau mit seinen Brüdern eine Landwirtschaft, La Reboule. Olga Manguin nennt sie "die kleinen Cappeaus", weil sie die Mittdreißiger schon als Kinder kannte. Ihr Großvater hat die Landwirtschaft vor hundert Jahren begonnen, er hat noch Wein angebaut. Aber das haben die Landwirte auf der Insel in den Achtzigerjahren aufgegeben, zu groß war die Konkurrenz durch die vielen guten, teilweise herausragenden Rhône-Lagen.

Numa Cappeau hat komplett auf biologischen Anbau umgestellt - und auf ausschließlichen Direktvertrieb. "Wir beliefern Restaurants in der Gegend", sagt der schlaksige Bauer, darunter die Sterneküche des Prieuré in Villeneuve-lès-Avignon. Den Großteil ihres Obstes und Gemüses verkaufen die Cappeaus in ihrem Hofladen. "Die Kundschaft kommt aus einem Umkreis von zehn Kilometern, überwiegend aus Avignon", so Cappeau. Zudem profitieren sie von den Touristen auf dem benachbarten Campingplatz.

Ihm und seinen Brüdern ist an einer größtmöglichen Vielfalt gelegen: Sie bauen 150 Gemüsesorten an, darunter mehr als 40 Tomatenarten, ein halbes Dutzend Kartoffelsorten. Ähnlich vielfältig ist die Obstauswahl: Allein 15 verschiedene Pfirsichsorten bieten die Cappeaus an. Und sie verkaufen teilweise auch Obst und Gemüse weiterer Biolandwirte auf der Insel, wenn sie ihr Sortiment dadurch erweitern können. Die Preise sind günstig dank des Direktvertriebs. Und so profitieren die Cappeaus von der Sehnsucht der Städter nach dem Landleben, die sich auf der Barthelasse, einer der größten Flussinseln Europas, besonders gut befriedigen lässt, weil die vertraute Stadt immer in der Nähe ist.

Samstags Menü, sonntags Brunch

Auch die Niederländerin Rimske Appelo, die seit fünf Jahren mit ihrem Partner Loïc Popioleck, einem Bretonen, einen Bauernhof im Norden der Insel bewirtschaftet, macht ähnliche Erfahrungen. In ihrer "Mazet des Papes" bieten sie sonntags einen Brunch an und samstagabends ein Menü. Wochenends hat ihre Boutique offen, in der sie Obstsäfte, Konfitüren, Fleisch, Eier und selbst gebrautes Bier verkaufen. "Oft kommen Leute mit ihren Kindern, die noch nie echte Bauernhof-Tiere gesehen haben", sagt Appelo. "Oder auch einfach nur Leute, die mal rauskommen wollen." Sie selbst steht natürlich auch für diese Sehnsucht: Sie hat in Grenoble einen Job in der Computerindustrie aufgegeben, um Obst zu ziehen, Schafe zu schlachten und ihre Äcker, wann immer es geht, ganz nostalgisch mit Pferden zu bestellen.

Emil Péniche ist dieses rührige Landleben auch noch zu viel Trubel. Seinen wirklichen Namen nennt er nicht, nach anfänglicher Skepsis lässt er einen aber doch auf sein Hausboot. Ungefähr zwei Dutzend liegen an beiden Ufern der Insel und prägen ihr Bild. Das Verhältnis ihrer Bewohner zu den vermögenden Villenbesitzern nebenan ist nicht ungetrübt. Auch deshalb möchte Péniche anonym bleiben. Sein Boot war einmal ein Frachtkahn, der auf der Saône Kies und Steine transportiert hat. Als Péniche ihn 1987 gekauft hat, lag noch etwas Kies im Rumpf. Er hat Beton draufgegossen und nun in seinem Wohnzimmer eine Art kopfsteingepflasterten Fußboden. Gerade baut er wieder um unter Deck. "Das Provisorische ist mir wichtig, das Wissen, jederzeit abfahren zu können", sagt er. Über dem Eingang zum Maschinenraum spannt sich ein Spinnennetz, er war länger nicht unten. Theoretisch könnte er ablegen, aber es gibt keinen Grund.

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SZ vom 21.08.2014/ihe
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