Süddeutsche Zeitung

Reserviert für die Reichen:Miami Freak-Show

Sonniges Florida: Hier gedeiht der Hedonismus, und wer kein Geld hat, ernährt sich vom Strandgut der Wohlhabenden.

Willi Winkler

Tim steht, eine Bierbüchse in der Hand, in kurzen Hosen auf seiner Yacht und doziert. Hinter ihm wächst die Skyline von Miami, werden die Banken und Hotels und Versicherungen immer noch größer, aber Tim muss das jetzt loswerden. Vor Publikum.

Seine Frau, gut 20 Jahre jünger, sehr blond, mager und auch noch eine echte Russin, hört ihm nicht zu, denn sie hat genug damit zu tun, als Galionsfigur die Yacht zu verzieren und die große Fläche, die der kleine Bikini freigelassen hat, nachzubräunen. Tim redet und er redet wie ein Buch.

IndenNachrichtenkommtnurPropaganda. DiegroßenKonzernehabenallesimGriff. WirwollendieganzeWeltbeherrschen. NiemandhatBushgewähltniemand! Michael Moore ist nichts dagegen.

Mit seinen Freunden hat sich Tim überlegt, wie sie den Präsidenten stürzen könnten. Mit Wahlen werde das ja doch nichts, deshalb sollte man ihm ein paar Sixpacks Budweiser und eine Vorratspackung Kokain über den Zaun des Weißen Hauses schmeißen. "Dann wird er rückfällig, fängt wieder an zu saufen und zu koksen und dann ist er weg!"

Stundenlang geht das so, während wir durch den Frachthafen von Miami hinaus nach Key Biscayne fahren. Tim ist Zahnarzt, genauer gesagt dentist to the stars. Obwohl morgen Samstag ist, erwartet er einen Kunden. Der kommt eigens aus Kalifornien eingeflogen, um sich von ihm die Zähne richten zu lassen. Als sie hier vor fast zwanzig Jahren "Miami Vice" drehten, hat sich Tim um die Zähne von Don Johnson und Philip Michael Thomas gekümmert.

Seitdem ist er kleinerer Millionär. Da er aber nicht immer nur von der Hand in den Mund leben wollte, hat er längst sein eigenes Restaurant, das "Tantra". "Das billigste Restaurant in Miami konnte ich nicht sein, also wollte ich das teuerste sein." Die Stars und alle, die den Stars beim Verzehr des "erotischen Essens" zuschauen wollen, rennen Tim die Bude ein. Seitdem ist er schon größerer Millionär.

Die Ankunft der Glücksritter

Vor mehr als hundert Jahren, so geht die lokale Sage, schickte eine aus dem Norden eingewanderte Witwe dem Eisenbahnbaron Henry Flagler eine Kiste voller Orangenblüten und das Angebot, New York im Winter mit Zitrusfrüchten zu versorgen.

Flagler tat wie gewünscht und verlängerte seine Eisenbahn bis hinunter an den leeren Strand von Miami. Er wurde reich. Unzählige Glücksritter und Spekulanten sind ihm gefolgt, Immobilienmakler, Architekten, Alkoholschmuggler, Mafiosi, Drogendealer, Rentner und schließlich die Touristen.

Sie alle haben für den fast immerwährenden Florida-Boom gesorgt. Kinder müssen nach Disney World, Abenteurer in die Everglades, Rentner nach West Palm Beach, Hemingway-Verehrer nach Key West, aber das wahre Leben findet am Strand von Miami statt, dort, wo sich zehntausende von Models, Starlets, Künstlern und Schwulen niedergelassen haben. Sie warten, natürlich, darauf, dass sie einer entdeckt, und die Schwulen wollen sich zeigen. Miami hält den zweiten Platz in den USA für so genannte "erotische Begegnungen".

Da die durchschnittliche Tagestemperatur bei 24,5 Grad liegt, bleibt einem wenig anderes übrig, als sich bei erster Gelegenheit die Kleider vom Leib zu reißen. Am weißen Strand vor dem Ocean Drive zeigen Latinas ihr üppiges Dekolleté und werden von den Männern doch nicht beachtet. Miami ist seit Jahren Lieblingsurlaubsort und Residenz der Schwulen aus der ganzen Welt.

Hier posieren sie von morgens bis abends, kontrollieren, ob der andere schon Altersfältchen entwickelt, welcher Muskel schlaff zu werden beginnt, ob das noch ein Pigmentfleck oder schon ein Melanom ist. Was willst du da mit deinem verfalteten bleichen mitteleuropäischen Schandkörper! In Miami Beach, das ist Vorschrift, wird man ein besserer Mensch.

Die vielen shopping malls helfen dir beim Besserwerden, zweistöckige Kathedralen, kreuzförmig oder mit Seitenschiffen angelegt, angenehm auf mitteleuropäischen Frühsommer temperiert, bespült mit garantiert rückstandsfreier Musik, an den Rändern riesenhafte Grünpflanzen, die aus reinchemischen Nährbeeten hoch wachsen. Ein Markengeschäft folgt aufs andere, wenig Kundschaft drin, denn die flaniert draußen auf dem Gang, sechs, acht Tüten schon an den Händen und immer noch der suchende Blick, das unbestimmte Sehnen, die Hoffnung, dass sich am Ende dieses Flurs noch mehr und noch Schöneres findet.

Jennifer Lopez kommt manchmal her, heißt es, oder Madonna, wenn sie in Miami ist, und der Kaufrausch sie packt. Oder Will Smith. Sylvester Stallone hatte ein Haus in Coral Gables. Barbara Becker wohnte auf Fisher Island und hat jetzt ein Haus auf dem Festland. Aber heute kommt niemand. Vor der Glaswand schüttet es drei Minuten lang, fünf Minuten später ist alles verdampft. Drin hat sich kein Lüftchen geregt.

Das Einkaufen allein macht noch keinen besseren Menschen, da bedarf es schon einer besonderen Behandlung. Im Beauty-Salon (Jennifer Lopez kommt manchmal her!) bekommst du eine Karte, und mit der zuckerschnutensüßesten Stimme sagt die blonde Statue an der Rezeption, dass Rosemarie deine Therapeutin sein wird. Bis dahin hattest du ja noch keine Ahnung, dass dir was fehlt, aber die Rezeptionistin, Rosemarie und das "Elemis-Spa" wissen es einfach besser.

Rosemarie führt dich in deine "Wellness-Oase", die du "verwandelt und erhoben" verlassen wirst. Und am Ende hat Rosemarie die Analyse fertig. Ganz nah hält sie dir das Anamneseblatt vor die Augen, damit du's auch ohne Brille lesen kannst: Augenfalten, Magenfalten, Stirnfalten, trockene Haut, feuchte Haut, eine einzige Katastrophe.

Doch als gute Therapeutin weiß sie Rat: Fältchencreme 55 Dollar, Schälcreme 35 Dollar, Hautcreme 90 Dollar, Feuchtigkeitscreme 124 Dollar. Alles zusammen gibt es auch noch im praktischen Reiseset, damit du unterwegs die Behandlung nicht zu unterbrechen brauchst: 298 Dollar.

Da du fürchtest, das überirdische Leuchten auf deinem Gesicht könnte die uninitiierte Kaufkundschaft draußen erschrecken, überlegst du, ob du nicht besser dein neues Haupt verhüllst. (Ist das nicht Jennifer Lopez, die sich im Schutz der Dunkelheit ins "Elemis" schleicht?) Niemand schaut. Schönheit ist ein großer Glanz, aber innen.

Schön ist was anderes, zum Beispiel Minerva. Minerva ist Kubanerin. Aus Kuba kommen die besten Zigarren, also fertigt Minerva kubanische Zigarren. Genau genommen sind es gar keine kubanischen, denn der kubanische Tabak darf nicht in die USA eingeführt werden. Sie werden als "Cuban made" verkauft, von Kubanern hergestellt.

In den kleinen Zigarrenfabriken von Little Havanna arbeiten nur Exilkubaner. Minerva und ihre Kolleginnen holen sich Blatt für Blatt aus einem Korb, rollen kleinere ins große Deckblatt, pressen, rollen wieder, quetschen, schneiden vorn und hinten zu, legen die Pressstücke zum Schmoren. Jede zehnte oder zwanzigste rauchen sie an, und dann steigt dieser Herrenclubduft mit einer eindrucksvollen Rauchwolke auf. Ein Jahr wird die fertige Zigarre ruhen müssen. Gleich geht es an die nächste.

Unter den Platanen im Garten nebenan klackt es vom Zusammenstoßen der Dominosteine. Die Alten schieben sie stumm herum, die Zigarren gehen in Rauch auf, dann reden die Alten doch wieder, reden von Kuba und wie lang es noch dauern wird.

Vor vierzig oder vor zwanzig Jahren sind sie aus Kuba geflohen, vielleicht auch erst vor ein paar Tagen, und sie bleiben Kubaner. Sie sprechen nur Spanisch und weigern sich, Englisch zu lernen, aber kein Politiker könnte ohne sie regieren. Die kubanische Minderheit beherrscht Florida.

Anderswo mag man sich über die Operation in der Schweinebucht aufregen, mit der der CIA 1961 Fidel Castro abservieren wollte, hier brennt ein ewiges Licht vor dem Denkmal für die Männer, die im heroischen Kampf gegen den Diktator gefallen sind, der ihnen ihre Heimat geraubt hat.

In Little Havanna bleiben die Exil-Kubaner unter sich, aber ihre Musik, ihre Farben, ihr Essen hat sich in ganz Florida ausgebreitet. Der Körperkult der Schwulen am Beach imitiert die Lässigkeit der Latinos. Jennifer Lopez ist das Idol der hispanischen wie der weißen Bevölkerung.

Auch Gianni Versace zog es hierher ins körperbetonte Miami, und als Italiener ließ er sich natürlich eine Renaissance-Villa bauen, das einzige Wohnhaus am Ocean Drive. Auf dem Heimweg, morgens, wurde er vor sechs Jahren vor seinem schmiedeeisernen Portal umgebracht, erschossen. Ein toter Vogel lag in der Nähe, damit es wie ein Mafia-Mord aussah.

Die Touristen zeigen sich gegenseitig die Stelle auf den Stufen, von der erst nach langem Scheuern der Blutfleck wegging. Ein schwuler Millionär, die Modewelt, die Mafia, aaaah! Schaudernd gehen sie weiter. Mord im Paradies.

Unter den Bäumen auf der gegenüberliegenden Straßenseite sucht Nick den Boden ab. Nick ist Schatzsucher. Gut, er arbeitet eigentlich im Büro, Montag bis Freitag, ganz regulär, hat ja eine Familie zu ernähren, aber am Wochenende blüht er auf.

Mit einer Taucherausrüstung und einem engmaschigen Kindernetz geht er auf die Jagd, grast den flachen Boden unter dem lauen blauen Lagunenwasser ab, achtet drauf, dass er nicht zuviel Sand aufwühlt, führt den Sensor am Grund entlang und zieht ein paar sehr grünstichige Münzen heraus. Immerhin. Zur Erholung wechselt er ans Ufer und führt sein Suchgerät über den fettgrünen Rasen am Ocean Drive.

Die Leute verlieren alles: Handys, Geldscheine, Uhren, Ringe, Gürtelschnallen, Kugelschreiber. Nick räumt hinter ihnen her. Nick findet alles wieder. Ein Armband für 5000 Dollar war dabei. Und was macht er damit? "Das behalte ich." Glück muss man haben. Nick sucht weiter danach.

Miami ist eine der ärmsten Gemeinden der USA. Die Kubaner, die es nicht in die Zigarrenfabriken, den Einzel- oder gleich den Drogenhandel geschafft haben, die Schwarzen, die auch hier die Verlierer sind, hausen in ihren wenig freundlichen Vierteln.

Draußen im Hafen vor Miami liegt Fisherman Island, die reichste Gemeinde der USA. Auf dieser künstlich angelegten Insel haben sich Tennisspieler niedergelassen, Filmstars, gehobene Millionäre. Besucher wohnen in kleinen Häuschen im pseudo-spanischen Stil, für jeden steht ein Golfwägelchen vor der Tür, und hinten im Garten brodelt ein eigenes Jacuzzi-Bassin.

Der Flug der Reporter

Wer sich ein Apartment kaufen will, muss eine knappe Million Dollar an Kaution hinlegen, um überhaupt in den Fisher-Island-Club aufgenommen zu werden. Gegen Drogengeld gibt es keine Einwände, Hauptsache flüssig.

Auf der Insel darf niemand fotografiert werden, man bleibt lieber unter sich. Ein Infrarot-Sperrgürtel meldet jedes Schiff, das sich der Insel unangekündigt nähert. Als Boris Beckers Scheidungsprozess in Miami lief, sprangen Reporter mit dem Paraglider ab, reingekommen sind sie trotzdem nicht. Es ist ein vielfach verriegeltes Paradies, und entsprechend fad.

Von diesem Paradies legt Tims Yacht ab. Es wurde ein langer Abend. Vor Key Biscayne wurde gegrillt. Wer sich nicht vor Haien fürchtete, ist ins Wasser. Tim hat pausenlos weitergeredet. Er will jetzt was unternehmen. Filme machen. Politische Filme. Das zeigen, was das Fernsehen nicht zeigt. Endlich. Tim hat viel getrunken.

Die Dämmerung senkt sich auf die Yacht und auf Tims Furor. Der grüne Dschungel von Key Biscayne versinkt in der Nacht. Gianni Versaces Villa versinkt, die halbnackten Tänzer in der "Crobar", das "Tantra" mit seinem erotischen Essen, das "Bed", das "Rumi", das "Opium", die flamingo-farbenen Hotels an der Collins Avenue, die ganzen shopping malls mit ihren Entspannungsmassagen und der jenseitigen Raummusik, Fisher Island, alles versinkt. Sogar Jennifer Lopez versinkt.

Stumm glitzert bei der Rückfahrt über den Sund die Skyline von Miami. Flugzeuge durchqueren den Nachthimmel wie Sternschnuppen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.765335
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ v. 03.02.2004
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.