Reportage aus Aserbaidschan:Zu Besuch beim letzten Kaukasus-Deutschen

Viktor Klein ist der letzte Deutsche im aserbaidschanischen Chanlar: Ein Besuch bei einem lebenden Souvenir, in dessen Haus die Kuckucksuhren anders gehen. Diese Reportage war der Auslöser für das Buch "Kuckucksuhren in Baku".

Ingo Petz

Kuckuck. Kuckuck. "Der Baron, der mal Pfarrer war von Helenendorf, hat die uns geschenkt. So vor 100 Jahren. Eine Schwarzwald-Uhr", sagt Viktor Klein auf Russisch, nur die Schwarzwald-Uhr bleibt Deutsch "Schwarzwald-Uhr". Kuckuck, krächzt der Kuckuck, dem man sein Alter deutlich ansieht. Klein setzt sich an das schwarze Klavier. Mattes Licht fällt durch die grauen Vorhänge. Klein spielt Jazz. Das Zimmer steht voller Biedermeiermöbel, alte Fotos hängen an den Wänden, angestaubte Bücher liegen im Schrank, darunter "Brehm's Tierleben" von 1892.

Im gelblichen Licht der Lampe wirkt das Zimmer wie der kleine Raum eines hundertjährigen Puppenhauses. Nur stinkt es nach vergilbtem Papier, feuchter Luft und Wodka. Und die grünen Tennisbälle auf dem Klavier passen nicht in dieses Bild, in dem ein hagerer Mann sitzt - wie ein Barpianist, der sein Publikum verloren hat. Er trägt einen fleckigen Anzug, seine Haare und Koteletten sind grau. Er hat die Augen geschlossen und spielt und spielt. "Kennst Du das?" Es ist "Oh, Tannenbaum", doch es klingt, als käme es aus einem Leierkasten. Klein unterbricht. Sagt auf Deutsch: "Äh, muss man stimmen das Klavier."

Viktor Klein ist der wohl letzte Nachfahre der Schwaben, die sich ab 1819 im Südkaukasus, auf dem Gebiet des heutigen Aserbaidschan, per Einladung des Zaren Alexander I. ansiedelten. Genauer der letzte Nachfahre, der einen deutschen Namen trägt und noch ein bisschen Schwäbisch kann. Über 100 Familien waren aus dem Königreich Württemberg gekommen, weil sie nach den Napoleonischen Kriegen keine Perspektive in ihrer Heimat sahen. Sie gründeten die Siedlung Helenendorf am Fuße des Kleinen Kaukasus in der Nähe der alten Handelsstadt Gänjä. Die Deutschen kultivierten Wein und Öl, bald brachte es das Dorf mit den fünf Straßen zu Wohlstand und Bekanntheit.

Vor allem die Namen Vohrer und Hummel kennen viele Aserbaidschaner heute noch, sie machten Limonade, Bier, Cognac und Wein. Im Stadtmuseum von Gänjä steht etwas verstaubt eine der alten Flaschen. In den einstigen Vohrer-Produktionshallen ist heute das Kulturzentrum des Dorfes untergebracht. Der Ehemann von Asja Schükürowa, deren Mutter eine Deutsche mit Namen Ongemach war, kniet dort nieder und klopft auf das Parkett. "Das haben die Schwaben gemacht. Eine gute Arbeit. Ich liebe es", sagt er. "Wir vergessen die Deutschen nicht."

Legoland im Kaukasus

Wer mehrere Tage hier verbringt, wird eingefangen von einem watteweichen Deutschlandbild, das irgendwo zwischen Königreich und Paradies liegt. Studenten erzählen, es sei ihr größter Traum, Deutschland kennen zu lernen. Beim Obsthändler bekommt man eine Banane geschenkt, "auf die deutsch-aserbaidschanische Freundschaft".

Eine einseitige Freundschaft, denkt man bei sich, denn die meisten Deutschen dürften das junge Land eher für ein untergegangenes Kreuzfahrtschiff halten. Vilyam Haciyev, der Bürgermeister von Chanlar, erzählt jedem Besucher, er habe vom Präsidenten persönlich den Auftrag bekommen, das deutsche Erbe wieder herzustellen. In seiner Euphorie hat er dann mal befohlen, die alten Häuser und Höfe mit ihren spitzen Dächern und Veranden zu streichen - grün, orange und blau. Im warmen Herbstlicht wirkt das Dorf jetzt wie Legoland vor dem gewaltigen Postkarten-Panorama des schneebedeckten Kaukasus. An der Universität von Gänjä wird wieder Deutsch unterrichtet.

Von Stalin deportiert

1928 wurde Helenendorf im Zuge der Sowjetisierung umbenannt, nach dem aserbaidschanischen Revolutionär Chanlar. Seit den Zwanzigern waren Deutsche vom NKWD regelmäßig verhaftet und ermordet worden. Fast 23.000 Deutsch-Aserbaidschaner wurden dann 1941, nachdem sie für Stalin als "Spione" und "Faschisten" in Ungnade gefallen waren, nach Kasachstan und Sibirien deportiert. Viele reisten später nach Deutschland aus. Fünf Familien, so sagt Klein, durften in Helenendorf bleiben, er selbst auch, weil "mein Vater ein halber Pole war". Nach 1941 wurden Armenier angesiedelt.

Zu Besuch beim letzten Kaukasus-Deutschen

Heute wird das Dorf vorwiegend von Aserbaidschanern bewohnt, rund 5000 Einwohner zählt Chanlar, die Arbeitslosigkeit ist wie überall im Land hoch. Auch deshalb trauert die Bevölkerung hier der Zeit nach, als "die Deutschen hier wie Könige" lebten. Das sagt Sakina Mamedowa, sie ist 79 und hat mit schwäbischen Mädchen früher gespielt.

Reportage aus Aserbaidschan: So sieht es im Wohnzimmer von Viktor Klein aus

So sieht es im Wohnzimmer von Viktor Klein aus

(Foto: Foto: Ingo Petz und Droemer Verlag)

Ihre Eltern arbeiten für die Deutschen auf dem Feld, als Pflücker. "Auch meine Enkel fragen mich oft, wie das war mit den Deutschen früher." Dann erzählt sie, dass Milch, die drei Tage alt war, die Schweine bekommen haben und dass selbst die Gärten nur mit sauberem Wasser bewässert wurden. Und ab und zu sagt sie: "Gott, was schwätz i wieder."

Wein wird schon lange keiner mehr gemacht in Chanlar. An manchen Häusern ranken sich noch alten Reben. Jeder hier macht Geschäfte, irgendwie mit irgendwas. Wer allerdings die üblichen Dörfer Aserbaidschans kennt, mit den unbefestigten Wegen, dem vielen Müll, dem kommt Chanlar wie eine andere Welt vor. Natürlich ist das eine Illusion, denn hinter den schwäbischen Fassaden lebt die aserbaidschanische Realität. Klein hat das dennoch nicht dazu gebracht, nach Deutschland zu gehen. "Wo soll ich denn hin? Hier ist auch Deutschland."

Der Kuckuck krächzt. Er ist nie aus dem Kaukasus herausgekommen, Deutschland kennt er nur von den Erzählungen seiner Mutter und ihrer Vorfahren und von den Berichten der Deutschen, die bei ihm ab und zu vorbeischauen und sich mit ihm fotografieren lassen. Die Aserbaidschaner sagen, er sei ihr "lebendes Souvenir". Was Klein gearbeitet hat? "Ach, Arbeit. Gibt es schon lange nicht mehr", sagt er und immer, wenn es konkreter in die Vergangenheit geht, antwortet er: "Ich erinner' mich nicht. Ist doch egal, war Sowjetunion. Dann Aserbaidschan." - "Wie alt sind Sie?"

"Steht der Kölner Dom noch?"

Er sagt, er sei 69. Dann zeigt er fast 100 Jahre alte Postkarten, von München, Wien und Köln. "Steht der Kölner Dom noch?", fragt er. Auf anderen Fotos sieht man ihn mit Freunden als jungen, fröhlichen Mann mit schwarzem Haar in den Bergen des Kaukasus und am Bergsee Göy-Göl. Er schaut lange auf die Bilder, sagt dann auf Aserbaidschanisch: "War eine gute Zeit". Und dann auf Deutsch: "Ach, du lieber Augustin. Alles ist hin."

In seinem Haus an der alten Helenenstraße 46, in dem er bis vor zehn Jahren noch mit seiner Mutter Lilli lebte, hat er unzählige Zeugnisse des schwäbischen Lebens zusammengetragen. Die deutsche Botschaft hatte mal die Idee, daraus ein Museum zu machen - mit ihm als Direktor. "Muss man aber Ordnung machen", sagt er. Wenn man so durch die Küche, durch den hohen Weinkeller, auf den geräumigen Dachboden klettert und durch das Schlafzimmer geht, in dem Goethe und Schiller an der Wand hängen, wird man das Gefühl nicht los, Klein habe hier auch sein Leben konserviert. "Nicht anfassen", sagt er manchmal: "Das hat meine Mutter noch so dahin gestellt."

Ingo Petz "Kuckucksuhren in Baku", Droemer Verlag 2006, 256 Seiten, 16,90 Euro

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