Süddeutsche Zeitung

Mythos Rennrad:Im Gelobten Land

In Italien erfahren das Rennrad und der Rennsport eine fast religiöse Verehrung. Ein Besuch im Zentrum der italienischen Rennrad-Begeisterung in der Lombardei.

Von Sebastian Herrmann, Magreglio

In den Hügeln südlich des Lago Maggiore schmiegt sich ein besonderer Schrein in die Straßenkurve. In eine Mauer ist eine Fahrradkurbel mit zwei Kettenblättern in den grob behauenen Sandstein eingelassen. Bestimmt, auch wenn das nicht verbürgt ist, handelt es sich um eine Kurbel des italienischen Herstellers Campagnolo. Alles andere wäre Frevel, Lästerung, Sakrileg! Die urteilsfreudige Rennrad-Inquisition droht ja schon mit dem Scheiterhaufen, wenn heutzutage jemand auf die Idee kommt, an sein Pinarello, Bianchi, Colnago, Wilier oder ein anderes Rennrad aus Italien Teile aus Japan zu schrauben.

Die Kurve liegt an der SP62 Via Gugliemo Marconi, bei Brinzio in Norditalien. Links und rechts von der Kurbel sind in der Steinwand Metallplaketten befestigt, welche die Namen von Rennfahrern tragen, Radrennfahrern natürlich. Es sind die Namen verdienter Asphalt-Pilger. Gleich daneben wurde eine Kapelle errichtet, ein Schild erklärt, dass man bei der "Madonnina dei Ciclisti" angekommen ist, der kleinen Madonna der Radfahrer also.

Italien mag die Heimat des Katholizismus sein, doch im Land existiert mindestens eine weitere Religion: Verehrt werden das Rennrad und seine Fahrer, mit einem Glanz, der seinesgleichen sucht.

Wem eine kleine Kapelle am Rand einer Landstraße für so eine große Behauptung nicht Beleg genug ist, der fährt (natürlich mit dem Rad) genau 67,4 Kilometer gen Osten, an den Comer See, und erbittet dort im Ort Magreglio Einlass in den Petersdom des Radsports: die der Madonna del Ghisallo gewidmete Wallfahrtskirche. Im Jahr 1948 wurde diese Madonna von Papst Pius XII. offiziell zur Schutzpatronin der Radsportler ernannt. Der Ort Magreglio, vielfach Zielort von Etappen des Giro d'Italia, hat sich seither zum Pilgerort der Radsportgläubigen entwickelt. Fausto Coppi, Gino Bartali, Francesco Moser, Marco Pantani, Mario Cipollini und andere Heilige des italienischen Rennradwesens haben Räder, Trikots, Trophäen, Pokale und andere Devotionalien gespendet, die die Kirche und das angeschlossene Museum zu einem symbolischen Epizentrum des italienischen Rennrad-Mythos machen.

Die Namen der Hersteller haben Melodie, die Rahmen eine besondere Optik

Die Kirche, der Papst, Helden aus längst vergangenen Jahrzehnten, große Siege, schöne Räder, das sind die Zutaten, die den Glanz des Rennradfahrens in Italien ausmachen. "Die besondere Aura italienischer Räder speist sich aus der Geschichte und der Tradition dahinter", sagt Horst Watzl, der im österreichischen Weinviertel die "In Velo Veritas" organisiert - eine Radveranstaltung, zu der nur klassische Stahlrahmen zugelassen sind, am besten solche aus Italien.

"Andere Länder haben natürlich auch eine große Radsporttradition", sagt Oliver Schwarzäugl, der in Nürnberg das Radcafé "Eddy would attack" führt, wo er auch klassische Rennräder, neue Wilier-Modelle und Campagnolo-Komponenten verkauft. Klar, Frankreich hat die Tour de France und verfügte einst über viele namhafte Hersteller. Großbritannien war vor vielen Jahrzehnten so etwas wie das Zentrum der internationalen Fahrradindustrie. In kaum einem Land leben fanatischere Radsportfans als in Belgien. Und auch in Deutschland existiert eine lange Fahrradtradition, hier wurde der Vorläufer schließlich erfunden. "Aber es gibt nichts Vergleichbares in anderen Ländern", sagt Horst Watzl. Italien ist anders, der Giro, die Räder, die Figuren, die Hobby-Fahrer.

"Das ist eine reine Gefühlssache", sagt Oliver Schwarzäugl, "das fängt schon mit den Namen an, die etwas in einem auslösen." Cinelli hat mehr Melodie als, sagen wir zum Beispiel: Kalkhoff. "Das hat auch ganz viel mit Ästhetik zu tun", sagt Robert Wolf, der eigentlich im Immobiliensektor in Wien arbeitet, uneigentlich aber eine besondere Passion für Rennräder mit italienischer Aura pflegt. Die Rahmen und auch die ganzen Räder, klassisch wie modern, verfügen über eine besondere Optik, die aus kaum begreifbaren Gründen noch schöner wirkt als bei Rädern aus anderen Quellen. Warum? Schwer zu sagen. Ein Herrenanzug aus Mailand sieht ja auch nicht grundlegend anders aus, strahlt aber oft eine besondere Eleganz aus.

Marken wie Bianchi sind schon für ihre eigenen Farben bekannt: Alleine das Bianchi-Grün, es nennt sich Celeste, versetzt Fahrer in Verzücken und bringt sie dazu, einander mit Legenden über den Ursprung dieser Lackierung vollzuquatschen. Wer auf einem Bianchi unterwegs ist, auf den färbt dieser alte Glanz ein wenig ab. "Mit so einem Rad kann man sich ein bisschen Grazie kaufen", sagt Schwarzäugl. Vielleicht lässt es sich mit Autos vergleichen: Ferrari, Maserati oder Alfa-Romeo versetzen Vierradfans in Verzücken. Und auch da lässt sich einwenden, dass Autos aus anderen Ländern gewiss nicht schlechter sind, eventuell sogar im Gegenteil. Aber sie haben nicht den besonderen Glanz, das Ferrari-Rot, den besonderen Stil; irgendetwas fehlt, etwas Seele, etwas Glamour - es ist, wie gesagt, eine reine Gefühlssache.

"Man muss aber auch sagen, dass die italienischen Fahrrad-Hersteller technisch lange absolut führend waren", sagt Robert Wolf. Es war Tullio Campagnolo, der den Schnellspanner erfand, nachdem er 1927 im Schneetreiben während eines Rennens die Flügelmuttern an seinem Hinterrad mit klammen Fingern nicht gelöst bekam. Er gab den Leistungssport zu Gunsten des Hochleistungstüftelns auf, gründete die nach ihm benannte Firma und trieb den Zweiradfortschritt voran. Die Firma entwickelte Schaltungen, Bremsen und andere Komponenten, die oft wegweisend waren und mit denen bis heute die mit großem Abstand meisten Tour-de-France-Siege eingefahren wurden. Campagnolo-Fans leben oft eine fanatische Markentreue, die selbst in der notorisch Material- und Marken-fixierten Rennradwelt unübertroffen bleibt.

Wollen diese perfekt gekleideten Radler wirklich auf einen Pass?

Dann sind da die italienischen Fahrer selbst, auch die Hobbyfahrer. "Die alten Haudegen, die immer perfekt gestylt unterwegs sind, die Haare gegelt, die rasierten Beine geölt, das Rad makellos geputzt", sagt Robert Wolf. Es wirkt oft, als führen diese perfekt gekleideten Radler zu einem gesellschaftlichen Ereignis statt nur auf einen Pass. Es ist ein Klischee, doch Klischees treffen eben auch oft zu: Italienische Rennradfahrer strahlen Stil und Grazie aus, selbst wenn sie das exakt gleiche Funktionswäschezeug anhaben und auf dem gleichen Rad sitzen wie Radfahrer, die sonst nördlich der Alpen ihre Runden drehen. "Ich habe in Italien noch nie eine dreckige Nabe an einem Rennrad gesehen", sagt Wolf. Gläubige gibt es überall, doch an manchen Orten werden Messen eben mit mehr Prunk, Glanz und Gloria gefeiert.

Und doch verliert die Gemeinde der Radfahrer eventuell ein wenig an Strahlkraft im gelobten Land des Radsports. Die meisten großen Hersteller aus Italien lassen ihre Rahmen längst in Asien fertigen. An den Pinarellos, mit denen die Profis den Giro oder die Tour fahren, sind aktuell Shimano-Komponenten verbaut. Die jüngeren Hobbyfahrer, so erzählt Robert Wolf, kaufen immer häufiger amerikanische Marken wie Specialized oder Trek. Campagnolo habe die technische Entwicklung ein wenig verschlafen und übertreffe andere Firmen nur mehr beim Preis. Und die Rennrad-Modetrends, weg vom krachig bunten Litfaßsäulen-Trikot, hin zum gedeckten unifarbenen Leibchen, haben Marken wie Rapha aus Großbritannien vorangetrieben.

Aber so ist das wohl, in einer immer kleineren, weil globalisierten Welt. Der Yamaha Scooter macht der Vespa Konkurrenz und guten Espresso gibt es auch in anderen Ländern. Auf das Rennrad übersetzt: Gediegene Radler fahren mittlerweile auch durch andere Länder, und ihre Räder finden auch einen Platz im Herzen der Italiener. Aber vielleicht sind das erst recht Gründe, um Geschichte leben zu lassen und den Mythos auf einer Rennradreise durch Italien zu feiern. Die Rennradheiligen werden schützend ihre glattrasierten Beine über die Pilger halten. Denn ihre Aura bleibt noch immer unerreicht.

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