Reisen in Deutschland:Hinten auf der Hundshaut

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Unterwegs im Niemandsland: Eine spätwinterliche Reise mitten durch Elend, Jammer und Noth im Bayerischen Wald.

Willi Winkler

Berlin stand wieder kurz vor einem Kollaps, es gab neue Zahlen von Opel, von der Bundesagentur für Arbeit, von der nächsten Bank, aber vor allem hatte es wieder zu schneien begonnen. Vom frühen Morgen an draußen das Scharren der Schneeschaufeln, die heulend anfahrenden Autos, das Brummen der Schneeräumer mit der irrlichternden Warnleuchte.

Der Missmut über den Winter, der einfach nicht enden will, reichte noch bis in den ICE nach Nürnberg, in dem alle viel zu warm angezogen waren und sich in die Ecke drückten. Die Fahrt geht praktisch ans Ende der bewohnten Welt, dorthin, wo es ganz, ganz schlimm aussehen muss. Jamma-Jamma-Jamma, rattert es unter dem Sitz, und dann, noch deutlicher: Elend-Jammer-Noth.

Der Zug ist längst kein Mehdorn-Express mehr, sondern heißt jetzt Franz Kafka. Keiner spricht mehr Deutsch und keiner weiß, ob der Franz Kafka auch in Cham hält. Die Fahrgäste müssen heut noch nach Pilsen und nach Prag. Sie waren schön einkaufen, sie wissen nichts vom Elend, und nach Cham wollen sie auch nicht.

"Es nimmt seinen Anfang", prophezeite seinerzeit der Mühlhiasl, "wenn ein großer weißer Vogel oder Fisch über den Wald fliegt." Der Mühlhiasl, der große Seher des Bayerwaldes, sah schon vor zweihundert Jahren das Ende kommen. Und wirklich, über Nacht sind große Schwärme von Seidenschwänzen eingefallen. Sie kommen aus der nördlichen Tundra, weil sie dort nicht mehr genug zu fressen finden. Sie fliegen in Scharen herein über den Wald und hocken dann mit gesträubter Haube zu Hunderten in den Obstgärten und beratschlagen, ob sie noch weiter in den Süden ziehen sollen. Früher galt der Seidenschwanz als Unglücksbringer, als Pestvogel, jetzt kündigt er kreischend bessere Zeiten an.

Lesen Sie weiter, wie die drei Ortschaften zu ihrem Namen kamen - möglicherweise.

Anno 1521 kamen keine exotischen Vögel in den Oberen Bayerischen Wald, sondern es kam der Krieg. Wie dann die schwere Zeit war, als die Mordbuben alles niederbrannten, die Frauen vergewaltigten und die Kinder mitnahmen auf ihren ungesattelten Pferden, wie das Vieh in den Ställen schrie und schrie und nicht mehr aufhörte, bis alles elendiglich verreckt war, weil keiner mehr da war, um die Kühe zu füttern und zu melken, wie zu allen Kriegsgräueln noch die Krankheiten kamen, eine Seuche nach der anderen über die Pfalz strich, als wirklich kein Gott und kein König mehr regierten, kein Gesetz mehr galt, da war für die Waldler das Ende schon sehr nahe.

(Foto: SZ-Grafik: Michael Mainka)

Gevatter Tod und die apokalyptischen Reiter

Der Krieg bat den Schnitter Tod zum Gevatter, und sogleich stellten sich auch die anderen apokalyptischen Reiter ein mit Gemetzel und Pestilenz und bösem Mord. Jammer, Elend und Not herrschten allenthalben, als sich der böhmisch-pfälzische zum Dreißigjährigen Krieg und damit zum europäischen Konflikt ausweitete, und hier, genau hier in Michelsneukirchen, soll es passiert sein.

Einer gut gepflegten Sage zufolge waren müßige Landsknechte, die von Roding herübervagabundierten, die Ursache für das Jahrzehnte währende Morden: Als sie, wie's Kriegsleut gern tun, wenn ihnen langweilig ist, einen Bauernhof abfackelten, anschließend das Dorf Michelsneukirchen restlos plünderten und vermutlich die Frauen und Kinder dabei so wenig schonten wie das Vieh. Dabei war es wie immer in der Politik: Der deutsche Kaiser hatte Schulden, Kriegsschulden beim bayerischen Herzog Max, der Kurfürst werden wollte und deshalb als Sold die Obere Pfalz verlangte.

Eine Mautstation könnte die Namensgeberin sein

Aber in diesem Krieg muss es gewesen sein, dass die drei Orte entstanden sind im Vorderen Bayerischen Wald, im heutigen Landkreis Cham, die da aufgereiht sind wie an einer Perlenschnur: Elend, Jammer und Noth. Und schon war dieser ewiggültige Armutsdreiklang in der Welt, eine Kriegsfolge eigentlich und über die Flurnamen bewahrt bis auf den heutigen Tag. War es nicht so?

So war es ganz bestimmt nicht, sagt Richard Urban. Der 61-Jährige unterrichtet Mathematik und Physik am Gymnasium in Cham und widmet sich abends der Heimatgeschichte. Mit seiner Frau hat er fünf Kinder aufgezogen.

Das Rätsel dieser drei Namen, erläutert er in seiner Wohnstube, erschließe sich vom Doppelort Noth-Mauth. "Wenn da Maut genommen wurde, also ein Wegzoll, muss sich da oben über Michelsneukirchen eine Grenzstation befunden haben." Genau dort, wo es von der Kurpfalz ins alte Bayern hinüberging.

Herrenlose Pakete und die Stille des Ödlandes - auf der nächsten Seite.

Der Besucher zweifelt und sieht doch die schöne Legende von den kriegsgeschöpften Ortsnamen grausam zerschmettert. Schließlich heiße die Gegend nicht zufällig die Obere und Untere Hundshaut, setzt Lehrer Urban nach. Und ist Cham nicht noch heute einer der ärmsten Landkreise, jedenfalls im ehemaligen Westdeutschland? Wer sein Leben in der Hundshaut fristen musste, einem wertlosen Stück Land, wie Herr Urban erläutert, gehörte zu den Rechtlosen, zu den unsteten Landfahrern, der hatte keinen Besitz und kein Wohnrecht, der hauste im Ödland - von dem sich das Elend herleitet. Und Jammer und Noth? Die müssen sich dann angeschlossen haben wie eine traurige Prozession.

(Foto: SZ-Grafik: Michael Mainka)

Hinauf auf die Hundhaut - notfalls zu Fuß

"Eine Zeit kommt, wo die Welt abgeräumt wird und die Menschen wieder weniger werden", hat einst der weise Mühlhiasl gesagt, und der lebte wirklich in einer elendigen Zeit. Da hilft nur der Lokalaugenschein, hinauf auf die Hundshaut, notfalls zu Fuß, Schnee hin oder her. Im Wald ist es so still und leis, kein Auto fährt, keine Motorsäge sägt, kein Vogel singt, nichts. Ist die Welt schon untergegangen oder wartet sie noch ein kleines Stündlein?

Die Fußspuren da und dort, sie stammen von unsichtbaren Tieren. Waren es Schneehasen, Eichkätzchen? Es soll ja wieder Wölfe geben.

Neulich fand ein Forstarbeiter hier heroben lauter Pakete. Der Postbote hätte sie in Thalmassing zustellen müssen, weiter unten im Landkreis Regensburg. Warum fährt einer mitten im Winter sechzig Kilometer weit, um die Post, die er ausfahren soll, nicht ausfahren zu müssen?

Banale Faulheit oder menschliches Drama?

Kann es sein - die weltabgeschiedene Stille gibt einem die absonderlichsten Gedanken ein - kann es sein, dass sich hier ein menschliches, also ein wahrhaft literarisches Drama abgespielt hat? Und dass es sich bei dem dienstvergessenen Postboten um die Oberpfälzer Spielart des Melvilleschen Schreibers Bartleby handelt? Jenes, nun ja, kafkaesken Existentialisten, der irgendwann einfach sagt: "Ich möchte lieber nicht."

Aber vielleicht waren ihm die vielen Päckchen einfach zu schwer, und er bekam es mit der Angst zu tun, dass das Wirtshaus zumachen könnte, ehe er mit seiner Runde fertig wäre. Er konnte, altes Männerleiden, mit seiner Freundin vielleicht auch nicht reden und schickte ihr statt dessen diese gigantische Postwurfsendung. Weg damit, wird er sich gedacht haben, und der Schnee in seiner unendlichen Gleichgültigkeit deckte alles zu.

Manchmal rieselt es von den Fichten, dann schwingt der erleichterte Ast, als hätte sich eben ein Vogel weggeschnellt. Ein weißer, ein großer? Ein Seidenschwanz? Doch die Stille hält an, der Schnee treibt von Tschechien herein, und nirgends ein Mensch, ein Tier, ein Laut.

Lesen Sie weiter über menschliche Begegnungen in Michelsneukirchen.

Sogar der "pflichtbewusste Hund", vor dem ein Schild am Anwesen Elend 1 warnt, hat heute Ruhetag. Beim Gehöft gleich daneben, in Jammer, steigt zwar Rauch auf über dem Haus, aber es öffnet niemand. Die Nachmieter der rechtlosen Ödlandbewohner leben inzwischen selber recht wehrhaft in ihrer Einöde. Draußen könnten Fremde sein, Räuber und Böslinge aller Herren Länder, wie sie tausend Jahre lang immer wieder über diese Grenzregion hergefallen sind.

Als der einsame Wanderer einem Auto ausweicht, das unvermutet hinter ihm aus der Lautlosigkeit aufgetaucht ist, versinkt er bis zu den Knien im Straßengraben. Die Fahrerin lacht über das Missgeschick, aber sie hält gleich an, denn sie wohnt hier in Noth. Als einzige Hundshäuterin macht sie den Mund auf, wenn ihr die Frage nach dem Ursprung der drei Ortsnamen auch lästig ist. "Mei, die haben halt immer schon so geheißen."

Michelsneukirchen unten im Tal liegt wie ausgestorben, als wäre wieder der Schwede gekommen oder sonst ein räuberischer Eindringling. Die Michelsneukircher verabschieden den Simmel-Ludwig, der mit 87 gestorben ist. Ein Schuster war er und fleißig, beliebt und geachtet in der Gemeinde, die sich an einem Freitagnachmittag so geschlossen in die Dorfkirche gedrängt hat, dass nicht mal mehr Platz zum Stehen geblieben ist. Der Männerchor singt ihm den Abschied; die anderen Vereine geleiten ihn mit ihren Fahnen zum Grab.

Ein Elend, das überall gleich ist

Nachdem auch der Leichenschmaus vorbei ist, hören zwei Männer sich im Wirtshaus geduldig an, wie ein dritter von seinem Liebeskummer berichtet. Seine Freundin hat ihn verlassen. "Einfach so, verstehst, ohne Grund, einfach so!" Gibt es ein größeres Elend? Die anderen klopfen ihm auf die Schulter und bestellen, weil es draußen schon dunkel ist, lieber noch ein Weißbier. "Wir sind deine Task Force", sagen sie und "das wird schon wieder" - und schauen zu, wie die Hefe sich setzt im Glas.

Es wird das landläufige Elend sein, aber zum Glück kommt jetzt der verspätete Bus nach Cham. "Ich bin Alkoholiker", singen drei noch sehr Minderjährige hinten im Bus stimmstark die Sleipnir-Hymne nach, und immer wieder: "Ich bin Alko-holika-aha-!" Aber ob das wirklich die Lösung ist? "Nachher", wusste der Mühlhiasl, "wenn die Welt abgeräumt ist, kommt eine schöne Zeit."

Der nächste Teil der Reportagen-Reise führt zum Goldwaschen nach Pisek in Südböhmen.

© SZ vom 12.3.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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