Süddeutsche Zeitung

Tourismusverbot:Die einsamen Inseln

Helgoland, Sylt, Rügen, Usedom: Die Ferienorte in der Nord- und Ostsee, die sonst Millionen Besucher pro Jahr anziehen, schotten sich ab. Sicherer fühlen sich die Menschen dort trotzdem nicht.

Von Peter Burghardt

Um neun Uhr sollte sie wieder ablegen. Jeden Tag. Abfahrt in Hamburg, St. Pauli Landungsbrücke, Brücke 3/4, Zwischenstopp in Cuxhaven, am Pier "Bei der Alten Liebe", schöner Name übrigens in traurigen Tagen. Ankunft um 12.45 Uhr im Südhafen von Helgoland. Rückfahrt um 16.30 oder 17 Uhr, außer bei sehr schlechtem Wetter, das die Helgoländer ja immer mal wieder kurzfristig von der Außenwelt abkoppelt, wenn der Sturm peitscht. Dies allerdings ist ein Orkan ganz anderer Art. Nahezu windstill.

Das neue Highspeedschiff Halunder Jet der Reederei FRS liegt bei schönstem Sonnenschein im Hamburger Hafen, auch dieser Katamaran der Helgoline darf bis auf Weiteres nicht fahren. Andernfalls würde die 2018 in Dienst gestellte Schnellfähre bis zu 65 Stundenkilometer schnell über die Nordsee rauschen, um Hunderte Passagiere auf Deutschlands einzige Insel weiter draußen im Meer und zurück ans Festland zu bringen. Es gibt noch zweimal die Woche ein anderes Schiff, doch Touristen dürfen fürs Erste gar nicht mehr nach Helgoland. "Wir haben keine Touristen mehr hier, gar keine", sagt Lars Johannson am Telefon. "Das gab es noch nie. Das ist eine absolute Ausnahme. Eine sehr außergewöhnliche, seltsame Situation."

Lars Johannson leitet Helgolands Tourismus-Service, gerade wäre die Saison in Schwung gekommen. Das Eiland mit seinen Felsen und nebenan seiner Düne wäre normalerweise relativ voll, bald ist Ostern. So ähnlich geht es nun mehr oder weniger allen deutschen Inseln. Selten waren sie so einsam, selten war die einheimische Bevölkerung so unter sich. Denn die Landesregierungen und Landkreise im Norden haben beschlossen, die Feriengebiete von Urlaubern zu räumen, um das Virus zu bremsen. Mit Konsequenzen vieler Art.

Die Ostfriesischen Inseln, die Nordfriesischen Inseln, die Inseln in Mecklenburg-Vorpommern. Die Ferienorte an den Küsten. Helgoland. Sylt. Norderney. Amrum. Rügen. Usedom. Sankt Peter-Ording. Und so weiter. All diese Gegenden, die jedes Jahr Millionen Gäste anziehen, auch überall dort sollen die Menschen in diesen Wochen, vielleicht Monaten, allein bleiben, was sie ansonsten nie sind. Die Frage nach den Folgen kann sich jeder selbst beantworten. Leere Betten und Stühle bedeuten leere Kassen. Die Restaurants, Bars und Cafés sind angesichts der inzwischen bundesweit gültigen Kontaktbeschränkung ohnehin geschlossen, die allermeisten Hotels und Ferienwohnungen ebenfalls. Selbst Handwerker sollen die Ostfriesischen Inseln verlassen. Für Juist, Norderney und Baltrum hat der Landkreis Aurich eine Ausgangsbeschränkung erlassen. Man kommt bei der Fülle verschiedener Verordnungen kaum mehr mit.

Niemand hätte sich das bis vor Kurzem vorstellen können. Die Hamburger zum Beispiel hatten bis zum 15. März zwei Wochen lang ihre üblichen Schulferien im Frühjahr, ehe die Klassenzimmer dann wegen der Pandemie zublieben. Viele dieser Hanseaten strömten in alle Himmelsrichtungen aus, nach Ischgl oder Mallorca, auf die Kanarischen Inseln, nach Südspanien oder nach Lech, aber halt auch an die beliebtesten, wenn auch noch kühlen Strände nördlich der Stadt. Doch auch Nikolas Häckel kennt den Ernst der Stunde. "Die Bundeskanzlerin hat es ja gesagt, diese Krise ist die größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg", sagt er, ebenfalls am Telefon, im Home-Office, ein gutes Stück weiter nordöstlich von Helgoland. "Das ist eine ganz, ganz besondere Zeit."

Nikolas Häckel ist Bürgermeister der Gemeinde Sylt, die ungefähr 15 000 Einwohner hat und von der man behaupten darf, dass sie zu den beliebtesten und exklusivsten Ablegern der Nation gehört. Auf der Insel liegen einige der teuersten Grundstücke Deutschlands, vorneweg in Kampen. Jetzt ist auch Sylt für Fremde gesperrt. Per Allgemeinverfügung erließ der Kreis Nordfriesland, den Zugang zu den Inseln und Halligen des Bezirks bis vorerst zum 19. April zu beschränken und touristische Zwecke zu verbieten. Zu Nordfriesland gehören unter anderem Sylt, Föhr, Pellworm und Amrum. Zutrittsverbot.

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Es darf nur kommen, wer einen Erstwohnsitz hat, einen Arbeitsvertrag, Verwandte ersten Grades oder eine Ausnahmegenehmigung. Da gerät sogar der Dauerstreit um die prekäre Zugverbindung über den Hindenburgdamm ein wenig in den Hintergrund, wobei sich die zahlreichen Pendler fragen, wie sie in der Marschbahn den Mindestabstand einhalten sollen.

Sylt und andere Inseln werben mit ihrer Natur, ihrer gesunden Luft. "Sylt hat ein gutes Klima, ist eine gute Insel für Atemwegserkrankungen, auch für Risikogruppen", sagt Bürgermeister Häckel. Gewöhnlich, aber das gilt nicht für Touristen in der Corona-Krise. Haben alle von ihnen Sylt verlassen? "Leider nein", erwidert Häckel. Einige Zweitwohnungsbesitzer seien dem Ausreiseaufruf nicht gefolgt.

Die Sache mit den Zweitwohnungen ist ein Politikum, ein verwirrendes. Erst hieß es, alle Zweitwohnungsbewohner müssten aus Nordfriesland abreisen, von Polizeikontrollen war die Rede. Einsprüche wies das Verwaltungsgericht Schleswig per Eilverfahren ab. Auch vereinzelte Pöbeleien wurden mancherorts gemeldet. Das alles erzürnte vor allem Hamburgs Senat, denn einige Hamburger besitzen auf Sylt oder an anderen Ufern ein zusätzliches Domizil.

Dann lenkte die Kieler Landesregierung am Montag mit dieser Regelung ein: "Neuanreisen in Zweitwohnungen ohne triftigen Grund sind untersagt", heißt es. "Zweitwohnungsbesitzer, die ihre Immobilie in Schleswig-Holstein aktuell bereits nutzen, könnten im Land bleiben." Alles klar? Nein, am 24. März stellte die Gemeinde Sylt diesen Hinweis auf ihre Website: Der Aufenthalt in der Zweitwohnung auf Sylt legalisiere "nicht ihren Verstoß gegen das bis gestern geltende Abreisegebot - eine eventuelle strafrechtliche Verfolgung dieses Verstoßes bleibt davon unberührt".

Bürgermeister Häckel verweist auf begrenzte Kapazitäten im Sylter Krankenhaus, aus fünf Intensivplätzen wurden vorübergehend zehn. "Jede zusätzliche Person bringt das ins Wanken." Er weiß, was die einzigartige Flaute für Sylt bedeutet. "Es geht ganz klar um Existenzen. Es wird mit Sicherheit Insolvenzen geben. Wir sind gerade eine Insel ohne Tourismus, wir sind im Stillstand. Der Betriebszweck ist sozusagen nicht erfüllt. Wir sind 100 Prozent Tourismus. Und frische Luft." Finanziell brauche man von der Regierung "ganz klare Ansagen. Jeder Tag kostet Geld".

Auch dieses Kleinod zwischen Watt und offener Nordsee, zwischen List und Hornum, ist nicht allein ein Hort für Wohlhabende, die sich Ausfälle leisten können. Ebenso wenig wie die Kette der Kaiserbäder im Osten auf Usedom, wo Polen obendrein auch die symbolische Europapromenade am Strand abgeriegelt hat. Vorher konnte man zwischen beiden Ländern wunderbar hin und her wandern, sie waren zusammengewachsen, bis eine unsichtbare Gefahr namens Coronavirus Sars-CoV-2 sie trennte. Jeden betrifft Corona, praktisch jeden Gastwirt, jeden Vermieter, hier und dort und überall. Wie lange? "Spekulieren macht keinen Sinn", sagt Nikolas Häckel, das Sylter Inseloberhaupt, "wir können nur hoffen, dass die Zahlen weiter sinken." Die Fallzahlen, klar, dass sie jedenfalls nicht zu sehr steigen.

Ist das zumindest der Vorteil einer Insel, die Distanz? Man sei ja nicht gegen das Virus gefeit, ahnt Lars Johannson, der Tourismusdirektor von Helgoland, diesem Außenposten des Kreises Pinneberg in Schleswig-Holstein. Man kann sich da nun eingesperrt fühlen, wobei die Verbindungen nicht ganz abgeschnitten sind, was allein wegen der ohnehin schwierigen Logistik unmöglich wäre. Man kann sich auch ein wenig sicherer fühlen, je nach Gefühl. So richtig toll ist die Stimmung momentan wohl nirgends, Insel hin, Festland her. Die Angst geht um, um Gesundheit, Jobs, Geld, Zukunft. Was die Corona-Fälle betrifft, so ist auf Helgoland noch keiner gemeldet, und Sylts Bürgermeister Häckel sagt: "Zwei der Statistikfälle des Kreises für die Inseln sind tatsächlich nicht auf den Inseln."

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SZ vom 26.03.2020/edi
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