Reisekolumne "Mitten in ...":"Die Bearbeitungszeit beträgt maximal 4 ½ Jahre"

In Rio de Janeiro verlieren junge Eltern den Glauben an die deutsche Effizienz. Und in München geht nachts ein ganz besonderes Stück zu Bruch.

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Mitten In Rio de Janeiro

Quelle: Marc Herold

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Mitten in ... Rio de Janeiro

Sofern sich die Geburt eines Kindes deutscher Staatsbürger im Ausland "ereignet", so ist eine Nachbeurkundung erforderlich. Sich in Rio ereignende Geburten fallen in die Zuständigkeit des Standesamts I in Berlin. Dieses Amt teilt mit: "Die durchschnittliche Bearbeitungszeit (...) beträgt 33 Monate, maximal 4 ½ Jahre." Und weiter: "Sobald die Urkunden fertig sind, werden Sie unverzüglich von Ihrer Auslandsvertretung informiert." Halten wir fest: Nachdem die Beamten zweidreiviertel bis viereinhalb Jahre lang ohnehin alle Hebel in Bewegung gesetzt haben werden, um den Antrag möglichst fix zu genehmigen, wird es danach erst richtig rasant. Dann wird keine Mittagspause und kein Kaffeekränzchen mehr vergehen, ehe jemand "unverzüglich" zur Hauspoststelle sprintet, um das Dokument nach Brasilien zu schicken. Kein Wunder, dass die deutsche Effizienz dort so berühmt ist.

Boris Herrmann

SZ vom 4. Mai 2018

Mitten In München

Quelle: Marc Herold

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Mitten in ... München

Es kracht. Mitten in der Nacht. Ein Erdbeben? Dann kreischt es aus der Wohnung drüber: "Du Arschloch! Warum tust du mir das an?" Okay, jetzt ist man wach. Es klingt, als ob Regale umfallen, Bücherstapel auf den Boden krachen, Vasen an Wänden zerschellen. Ein Mann ruft: "Was soll ich gemacht haben?" Bumm. Sie: "Ahhhh! Du hast meinen Kopf gegen die Wand geschlagen!" Er: "Das habe ich nicht gemacht, du ...!" Schluchzer, Schreie - Schläge? Hm. Was tun? Die Nachbarn zur Rede stellen? Die Polizei rufen? Dann öffnet sich die Balkontüre, einer der beiden Streitenden wirft mit Schwung etwas auf die Straße, wo es dumpf aufschlägt. In der Dunkelheit ist es nicht zu erkennen, am nächsten Morgen schon: Ein riesiges Lebkuchenherz, so eines, das man erst nach fünf Mass kauft, liegt im Dreck, zersplittert. Die Aufschrift: "I gib di nimmer her".

Nakissa Salavati

SZ vom 4. Mai 2018

Mitten In London

Quelle: Marc Herold

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Mitten in ... London

Die Briten lieben Wissenstests; in der Hauptnachrichtensendung am Morgen etwa bekommt das ganze Land täglich ein Rätsel gestellt. Und die Briten lieben ihr Kneipenquiz. Es gilt: kein Telefonjoker, keine Hilfsmittel, Gruppengröße egal. Im "Shakespeare" treten diesmal sechs Gruppen von bis zu neun Briten und ein Team aus drei Deutschen an. Manche Fragen sind absurd: Hinterlässt ein Wombat quadratischen Kot? Wie lange hat der Läufer beim London-Marathon gebraucht, der sich ein Furzkissen in die Hose gesteckt hatte? Die Deutschen versemmeln Runde eins, in der nächsten werden sie Zweite. Plötzlich steht ein sehr großer Brite am Tisch und droht: "Die dritte Runde gewinnt ihr nicht. Es geht nicht, dass die Deutschen uns beim Fußball und beim Quiz schlagen." Die letzte Runde geht an das größte britische Team, die Welt im "Shakespeare" ist wieder in Ordnung.

Cathrin Kahlweit

SZ vom 4. Mai 2018

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Quelle: Marc Herold

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Mitten in ... Marrakesch

Auf dem Djemaa el Fna, dem zentralen Marktplatz von Marrakesch, herrscht phänomenales Chaos. Schlangenbeschwörer, Jongleure und Wahrsagerinnen scharen ihr Publikum um sich, Verkäufer preisen schreiend ihre Waren an - frisch gepressten Orangensaft, gefälschte Markenhandtaschen, überteuerte Ledergürtel. An den Essensständen gibt es gegrillten Schafskopf, gekochte Schnecken und Hammeleintopf. Die Inhaber versuchen, die Touristen zielgruppengerecht an die Stände zu locken. Zuerst sondieren sie, woher die potenziellen Gäste kommen: "Hola! Español?" "Bonjour! Français?" "English? Hello my friend!" Dann gehen sie auf Trends und Vorlieben ein. Als der Schneckenbrutzler merkt, dass wir deutsch sind, macht er sofort auf Slow Food. "Leckerschmecker! Alles regional und bio!" Danke, vielleicht ein anderes Mal.

Titus Arnu

SZ vom 27. April 2018

Grado Italien

Quelle: Marc Herold

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Mitten in ... Rom

Im vollen Bus, Linie 63. Gerade rumpelte er noch über die Schlaglöcher und unebenen Pflastersteine auf der Piazza Venezia, dass einem bange war um die Achse, die Decke, das Leben. Draußen ist es 29 Grad warm, drinnen mindestens 39. Wahrscheinlich ist die Klimaanlage wieder defekt, wie so oft. Durch schmale Fenster kommt ein bisschen Luft rein, es sind flüchtige Schwaden des Glücks. Immer Winter, das wäre was! An der Via del Corso steigt eine elegante Dame zu, Täschchen am Arm. Sie drängt sich vorbei an den Studenten im hinteren Teil, schaut sich um und lehnt dann lässig an der Stange mit dem Entwertungskasten. "Signora", sagt ein Mädchen, "möchten Sie sich nicht hinsetzen?" - "Ja, Schätzchen", sagt die Signora laut und lächelt, "das wäre schön, grazie mille! Ich bin nämlich viel älter, als ich aussehe." Da ist er, der Frühling in Person.

Oliver Meiler

SZ vom 27. April 2018

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Quelle: Marc Herold

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Mitten in ... Istanbul

Die Braut rafft ihren schneeweißen Rock, einen Traum aus Tüll, wie ihn nur türkische Hochzeitskunst zu schneidern weiß. Dann steigt sie in den Zug, einen Waggon mit zerborstenen Scheiben und Graffiti an jeder Wand. Sie nimmt Platz, ohne Rücksicht auf das opulente Outfit. Der Bräutigam, ganz in Schwarz, bleibt auf dem Bahnsteig stehen. Dann drückt der Hochzeitsfotograf auf den Auslöser. Man könnte sich in diesem Moment fragen: Warum in aller Welt lässt sich ein junges Paar auf einem Abstellgleis fürs Familienalbum ablichten? Die Braut blickt verträumt durchs gesplitterte Glas zum Bräutigam. Sie lieben wohl einfach Haydarpaşa, den stolzen alten Bahnhof der Bagdadbahn, der tot ist, seit man unter dem Bosporus hindurchfährt. Ein Plakat warnt, der Bahnhof werde renoviert. "Betreten verboten." Gilt nicht für Verliebte.

Christiane Schlötzer

SZ vom 27. April 2018

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Quelle: Marc Herold

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Mitten in ... Nürnberg

Eine Zugfahrt von Düsseldorf nach München, der ICE ist voll. Beim Halt in Nürnberg werden auch die letzten freien Plätze belegt. Dann eine Durchsage: "Verehrte Fahrgäste. Der ICE am Bahnsteig gegenüber fährt ebenfalls nach München. Wir empfehlen zu wechseln, weil nicht absehbar ist, wann dieser ICE weiterfährt." Wie auf Kommando springen die meisten Passagiere von ihren reservierten Plätzen auf, als wäre ihnen ein böser Geist auf den Fersen, und rasen zum Zug auf der anderen Seite. Der ist bald rappelvoll. In unserem Zug bleiben die Zögerer, Faulen und Zuspätreagierer zurück. Es ist still. Die Stille der Verlierer. Plötzlich macht es pieppieppiep. Und unser Zug fährt los. Ein Mann im Anzug fragt ungläubig in die Stille hinein: Sind wir jetzt zuerst gefahren? Jemand antwortet: Ja. Dann bricht donnerndes Gelächter aus. Das Gelächter der Sieger.

Harald Hordych

SZ vom 20. April 2018

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Quelle: Marc Herold

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Mitten in ... La Gomera

Urlaub auf La Gomera ohne Handy, keine Nachrichten auf der Insel der Aussteiger, keine News aus Berlin, von Groko, Kanzlerin und Co. Und dann wird man im Bosque del Cedro, wo das Moos wie im Märchenwald von den Bäumen hängt, doch wieder eingeholt von der Bundesrepublik. Besser gesagt: Nach einer Stunde steht sie plötzlich vor einem, in Funktionskleidung, keuchend und schwitzend. Einem selbst geht es nicht viel anders, wobei man immerhin noch die Kraft hat, wie wild geworden der eigenen Partnerin zuzuwinken, die konzentriert weitergelaufen ist. Begeistertes Fuchteln in Richtung Frau, die neben einem steht - wie man selbst offenbar auch. Da fährt man als Nicht-CDU-Wähler nach La Gomera und führt sich auf wie der Vorsitzende der Jungen Union. Bis Bodyguards auftauchen, man zu Sinnen kommt und Angela Merkel hinter sich lässt.

Hannes Vollmuth

SZ vom 20. April 2018

Mitten in: Vaterstetten

Quelle: Marc Herold

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Mitten in ... Vaterstetten

An der Kasse im Supermarkt kommt jedes Mal diese Frage: Haben Sie eine Payback-Karte? Jeden Tag dieselbe Antwort: Nein. Hilft aber nichts, morgen wird das Spiel von vorne losgehen. Dass die Kassiererin, eine durchaus sympathische Frau, sich nicht blöd vorkommt? Heute steht in der Schlange ein adretter Mann. Während er in seinem Geldbeutel kramt, erzählt er der Kassiererin, dass er erst vor Kurzem hierhergezogen sei, wegen der Arbeit. Als Manager müsse er pendeln, sein Sohn studiere in Berlin. Plötzlich senkt er die Stimme, was die Schlange aufmerksam werden lässt: "Aber jedes Mal, wenn ich hier einkaufe und Ihr Gesicht sehe ...", jetzt schaut auch die Kassiererin ihn an, "... erinnere ich mich ...", für einen Moment scheint die Welt still zu stehen, in einer Telenovela würde jetzt kitschige Musik einsetzen, "... an: die Payback-Karte."

Cristina Marina

SZ vom 20. April 2018

Mitten in: Berlin

Quelle: Marc Herold

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Mitten in ... Berlin

Nieselregen, nasse Schuhe, Blase unter dem großen Zeh: Muss es ausgerechnet die Invalidenstraße sein, durch die ich mit Schmerzen humpele? Leider fährt die Straßenbahn nicht, irgendeine Störung. Die Busse stecken im Stau, die Taxis auch. Also quäle ich mich weiter zu Fuß in Richtung Hotel. Auf Höhe des Bundesverkehrsministeriums ist die Straße halb gesperrt. Am Eingang fahren dicke Limousinen mit dicken Politikern vor. Vor dem Prachtbau ein Imageplakat: "Wir sorgen für Mobilität 4.0". Ach ja? Wie denn? Ein Anfang wäre vielleicht, dass sich Verkehrspolitiker nicht mit ihren Dienst-Dieseln kürzeste Strecken innerhalb Berlins hin und her chauffieren lassen. Vom Hauptbahnhof oder vom Reichstag zum Verkehrsministerium kann man laufen! Das ist zwar Mobilität 1.0, aber umweltfreundlich und gesund. Es sei denn, man hat eine Blase am Fuß.

Titus Arnu

SZ vom 13. April 2018

Mitten in _ LA/USA/Venice

Quelle: Marc Herold

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Mitten in ... Venice

Kurz nach Einbruch der Dunkelheit, beschwingt schlendert man durch das schick-alternative Strandviertel von L. A. Plötzlich ein leises Klirren: das Geräusch von splitterndem Glas. Oh je, hat da jemand eine Flasche biodynamischen Sauvignon fallen gelassen? Ein paar Schritte weiter, vor einem Millionärsbungalow: Scherben auf dem Bürgersteig. Und darüber die baumelnden Beine eines Mannes, der sich etwas hilflos durchs Fenster in sein Auto beugt. Hat der arme Kerl was verloren? Von der kalifornischen Freundlichkeit inspiriert, will man ihn von hinten antippen und Hilfe anbieten - da erkennt man im letzten Moment, dass die Scherben vom soeben eingeschlagenen Beifahrerfenster stammen. Und der Mann ein Tuch übers Gesicht gezogen hat. Da besinnt man sich auf die gute deutsche Tugend der Diskretion und wechselt doch mal lieber die Straßenseite.

Jan Stremmel

SZ vom 13. April 2018

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Quelle: Marc Herold

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Mitten in ... Hamburg

Workshop im Hause eines Weltkonzerns, der auf dem Gebiet der Informationstechnologie führend ist. Das Unternehmen will den Teilnehmern den richtigen Umgang mit neu entwickelten digitalen Werkzeugen beibringen. Allerdings, wie es sich für einen solchen Global Player gehört, dessen Muttergesellschaft in den USA sitzt, heißen diese Werkzeuge natürlich Tools, und auch sonst wird an englischen Begriffen nicht gespart. Von "emerging technologies" und "indicators of trust" ist die Rede, von "wayback machines", "local news" und "self-fulfilling prophecies". Sehr professionell. Merkwürdig nur, dass in der Mittagspause die Tische in der Kantine für die Teilnehmer des "News Lap Training" reserviert sind. Zu Deutsch: für die Besucher des "Nachrichten-Trainings für den Schoß". Eigentlich hatte man doch irgendwas mit Lab(oratorium) gebucht.

Cristina Marina

SZ vom 13. April 2018

Mitten in Hamburg

Quelle: Marc Herold

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Mitten in ... Hamburg

Schwaben sind auch nur Touristen, die zur Terrasse der Elbphilharmonie wollen, oder auch ins Atlantic, denn im Atlantic, das steht im Reiseführer, wohnt Udo Lindenberg. In der Bar hängen ein paar seiner Aquarelle, flotte Paare, Frau mit spitzen Brüsten in der Wanne, so Sachen, alles sehr flüssig und bestimmt nicht billig. Nach Lindenberg zu fragen trauen sie sich nicht. "Der Udo hed beschtimmt ein seperatn Eingang", sagt die Schwäbin zu ihrem Schwaben und bestellt einen Irish Coffee zum Käsekuchen. "Was moinsch, dass sich der do hersitza däd?" "Ha noi, mit dem grossä Huat, d'Loid dädn ja koi Ruh mehr gebbä, wenn de dän sähet." Der Käsekuchen ist winzig, aber teuer. Ein älterer Herr schleicht vorbei, auf dem Kopf eine Offiziersmütze aus einer Verdi-Oper. "Lacha däd i, wenn er des wär, end mir merket es ned." Er ist es, und der Käsekuchen wirklich gut.

Willi Winkler

SZ vom 6. April 2018

Mitten in Austin

Quelle: Marc Herold

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Mitten in ... Austin

Im Fenster des Diners hängt ein roter Leuchtschlauch, der sich zu einem Willkommensgruß windet: "Sorry, we're open" steht da in geschwungenen Lettern. Ein Satz, der Hoffnung macht: Es ist früher Morgen, der Tag droht lang zu werden, Kaffee ist jetzt dringend nötig. Die Kellnerin erkennt sofort den Ernst der Lage, außerdem die Herkunft der Gäste. "Kommt ihr aus Deutschland? Ich liiiebe Deutschland!" Während sie braunes Lebenselixir in Pappbecher füllt, erklärt sie in fast akzentfreiem Deutsch, dass sie selbst länger dort gelebt habe. Köln, hach, Köln. Woher man denn komme? München, aha, auch schön. Dann, nach einem kurzen Moment des Nachdenkens, ruft sie euphorisch-beschwingt: "Ich liiiebe das Disney Castle in Bayern: Neuschweinchen!" Schöner hat wirklich noch kein Reiseführer Neuschwanstein beschrieben.

Johanna Bruckner

SZ vom 6. April 2018

Mitten in Berlin

Quelle: Marc Herold

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Mitten in ... Berlin

Eine Mutter mit Kinderwagen steigt am Hauptbahnhof in die S-Bahn ein. Das Kleinkind ist höchstens drei Jahre alt. Die beiden üben anscheinend neue Wörter: Die Mutter sagt leise eines vor, das Kind spricht laut nach. Allein: Das Nachgesagte hört sich - wie bei so kleinen Kindern häufig - ziemlich unverständlich an. Die Mutter sagt es noch einmal leise vor, das Kind wiederholt fröhlich und schlägt dabei im Silbentakt mit beiden Händen in die Luft. Leider ertönt es genauso undeutlich wie vorhin. Man wird neugierig, man möchte wissen, welches Wort einem Dreijährigen eine solche Freude an der Sprache bereiten kann. Ein lustiges? Ein Fantasiewort? Oder, kommt bei Kindern immer gut an: irgendwas mit pupsen? Während man sich unauffällig nähert, spricht die Mutter erneut das Wort aus. Diesmal ist es gut zu hören: "Schließfachanlage".

Cristina Marina

SZ vom 6. April 2018

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