Reisegeschichten von der Fußball-EM:Fast wie in Rio de Janeiro

Darf die Uefa eine Fußball-EM in ein Land mit politischer Willkür vergeben? Von Boykott war die Rede - die einfachen Ukrainer freuen sich jedoch über die Besucher im Land. In diesen EM-Wochen begegnen sich Menschen aus West und Ost, die sich sonst vermutlich nie getroffen hätten. Und die Gäste, die durch die Ukraine reisen, können zu Hause ganze Abende füllen mit lustigen Geschichten.

von Thomas Hummel

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Charkow Fußball-EM Ukraine

Quelle: dpa-tmn

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Darf die Uefa eine Fußball-EM in ein Land mit politischer Willkür vergeben? Von Boykott war die Rede - die einfachen Ukrainer freuen sich jedoch über die Besucher im Land. In diesen EM-Wochen begegnen sich Menschen aus West und Ost, die sich sonst vermutlich nie getroffen hätten. Und die Gäste, die durch die Ukraine reisen, können zu Hause ganze Abende füllen mit lustigen Geschichten.

Von Thomas Hummel

Die osteuropäischen Städte werden im Westen gerne unterschätzt. Rom, Paris, London kennt jedes Kind. Prag vielleicht auch noch. Aber wie stets um Kiew? Lemberg (Lwiw)? Wer kannte vor der Europameisterschaft Charkow (im Bild die Mariä Himmfelfahrt Kathedrale)? Doch jeder, der in diesen Städten war, wird zu Hause schwärmen vom monumentalen Kiew, vom bildschönen Lemberg, vom freundlichen Charkow. Wenngleich hin und wieder klar wird, dass sich hinter den Fassaden teils schwere Probleme verbergen.

EURO 2012: Schweden - England

Quelle: dapd

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In Warschau vor dem Eröffnungsspiel wanderte eine Gruppe junger Menschen durch die Innenstadt mit ukrainischen Fahnen und einem Plakat. Auf dem war Ministerpräsident Viktor Janukowitsch als Hitler dargestellt und darauf stand: "Wiederholt nicht die Fehler von 1936". In Kiew lagert am Ende der Fanzone eine Gruppe, die die Freilassung von Julia Timoschenko fordert. Und in Charkow wurden die Gehälter für Erzieherinnen, Lehrer und Krankenschwestern gekürzt, nach den Ausgaben für die EM ist nicht mehr genug Geld da. Ein Vorgeschmack, was passiert, wenn Europa nicht mehr auf die Fußballplätze des Landes schaut?

EURO 2012 - Niederlande - Deutschland

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Die Mode des europäischen Ostens hat in Deutschland nicht den besten Ruf. Ein gängiges Vorurteil lautet, dass sich die Frauen aus der alten Gardine noch ein Kleid nähen. Doch weit gefehlt.

In den Tagen der EM liegt eine fast brasilianische Hitze über dem ostukrainischen Spielort Charkow. Entsprechend brasilianisch ziehen sich die Menschen an: Männer sitzen im offenen Hemd in der U-Bahn, Frauen haben noch weniger an als Lena Gercke (siehe Bild elf), die Freundin von Sami Khedira. Und in punkto Schuhe gilt es, Zeh zu zeigen.

Männer schlendern in ausgelatschten Flipflops oder offenen Wander-Schuhen umher. Frauen tragen schicke Sandalen oder balancieren auf abenteuerlich hohen Absätzen, wobei sie ihre Zehennägel in allen der Welt bekannten Farben bemalen, von knallorange bis dunkelblau. Modisch also alles wie gehabt. Doch das Schuhwerk dient in Charkow noch einem weiteren Zweck. Wenn es regnet, ist es das Richtige, um durch das Wasser zu laufen. Nach einem Gewitterschauer verwandelte sich die abfallende Hauptstraße Sumskaya in einen knöcheltiefen Bach, trockenen Fußes die Straße zu überqueren, war unmöglich. Also: Sandalen und Pfennigabsätze runter und barfuß rüber. Fast in wie in Rio.

Euro 2012: Niederlande - Deutschland

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Unter den deutschen Fans geht ein Satz um in der Ukraine: "Es funktioniert nichts so wie man es erwartet, aber am Ende klappt alles." Das ist natürlich die deutsche Sicht der Dinge, denn deutsche Erwartungen sind bekanntermaßen streng.

Warschau, Westbahnhof, Abfahrt 9.40 Uhr, um 21.45 Uhr spielt Deutschland gegen Portugal im Lemberg. Wie lange benötigt der Bus denn für die knapp 400 Kilometer? Mehr als neun Stunden auf jeden Fall, berichtet einer, der schon mal gefahren ist. Oh, das wird knapp! Der Fahrer hält sechs Finger in die Höhe - na, dann ist ja gut. Eine Polin berichtet von sieben Stunden 15 Minuten. Als der Bus losfährt, bekreuzigt sich auf dem Nebensitz die ältere Frau mit dem Kopftuch. Vielleicht hilft es ja.

Euro 2012: Stadtansicht von Lwiw

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Nach genau acht Stunden Fahrt über die Landstraßen Ostpolens und der Westukraine, mehr als einer Stunde Aufenthalt an der Grenze inklusive, fährt der Bus in Lemberg (im Bild die Altstadt) ein. Alles kein Problem.

Der Hyundai-Fanzug in Kiew

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Mit der EM beginnt in der Ukraine die Zeit der Schnellzüge. Zwischen den Spielorten fahren die neuen Wagen von Hyundai, auf den Tickets steht: Ankunft 10.43 Uhr. Und genau in dieser Minute fährt er auch am Vokzal Pivdennyi in Charkow ein. Bei der Rückfahrt nach Kiew aber steht der Zug mehr als eine Stunde irgendwo zwischen den Feldern der Ostukraine, ein Baum hat sich auf die Schienen gelegt. Kurz bevor später die Hochglanz-Waggons in der Hauptstadt ankommen, hören die Fahrgäste eine Durchsage: "Wegen der Verspätung können Sie sich am Bahnhof in Kiew beschweren." Herzlich willkommen, Ukraine, in der Welt der Pünktlichkeit!

UEFA EURO 2012 Host Cities Features

Quelle: dpa

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Wenn Wladimir Iljitsch Lenin das gewusst hätte, hätte er sich abbauen lassen. Überall im Osten Europas wurden ja seine Statuen gefällt, aber in der ostukrainischen Stadt Charkow haben ihn die Menschen nicht angerührt. Die Jungen in der Stadt sagen, für die Großmütter sei er eine Erinnerung an alte Zeiten. Und die müsse man ihnen doch lassen. Nun steht er da am Ende des Swobody-Platzes, von hoch oben schaut er herab, noch immer in seinem langen Mantel, mit dieser wegweisenden Armgeste - und erinnert während der Europameisterschaft vor allem an eine Karikatur.

Der Platz, auf den Lenin blickt, ist der größte in Europa. Das sagen jedenfalls die Leute in Charkow. Nur der Tiananmen in Peking sei vergleichbar. Hier wurden früher Paraden aufgeführt im Namen seiner Ideen. Mehr als 20 Jahre, nachdem sich die Menschen und Systeme von diesen lösten, liegt hier die offizielle EM-Fanzone der Stadt. Und damit das Reich der Sponsoren und des windigen Liedguts.

Netherlands supporters

Quelle: dpa

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Gut, dass hier die holländischen Anhänger am Tag des Deutschland-Spiels die Musikwahl übernehmen durften, geschenkt. Das hätte Lenin im Zeichen der Völkerverständigung und des bilateralen Friedens wegen noch durchgehen lassen. Aber müssen die orangen Horden den ganzen Tag von Alkohol, Weibern und den Freuden des Fußballspiels singen? In einer Lautstärke, die selbst eine Marmorstatue erzittern lässt, dass man meinen konnte, sie wackle mit den Knien im Takt? Müssen sie in lächerlichen Kostümen umherlaufen oder mit einem Käse auf dem Kopf? Diese EM ist in Charkow der erste Karneval unter offiziell bolschewistischen Augen.

Noch schlimmer aber ist, dass zu Wladimir Iljitsch Lenins Füßen die vollendete Werbemaschine des modernen Kapitalismus läuft. Der Begriff "Fanzone" ist ja nur der irreführende Titel für eine Dauerwerbemaßnahme. Direkt vor Lenin preisen Mädchen im knappen Kleidchen die Vorzüge eines südkoreanischen Autoherstellers an. Und daneben, oh Schreck, hat der Erzfeind übernommen: Coca Cola. Der Weltenlauf kann manchmal unerbittlich sein.

Opening ceremony of the new International terminal at Kiev airpor

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Wenn schon privilegiert, dann richtig. Wer hat, dem wird gegeben werden, das wusste schon der Evangelist Matthäus. Die Ukrainer wissen das noch besser als andere Völker Europas - siehe ihre Oligarchen.

Die Veranstalter haben beschlossen, dass alle Menschen, die ein Ticket für die Spiele der Europameisterschaft haben, umsonst die öffentlichen Verkehrsmittel nutzen dürfen. Während der 08/15-Ukrainer in langen Schlangen am Automaten ansteht, ziehen hinten die Fans ihre Koffer vorbei.

Ankunft am Flughafen Kiew (im Bild die Eröffnung des neuen Terminals), 32 Kilometer außerhalb der Stadt: Bitte, hier entlang, zum Gratis Shuttle-Bus bis zur ersten U-Bahn-Station. Dort stürmen zwei Volonteers freudestrahlend auf die Gäste zu. Was, Sie sprechen deutsch? Was für eine Freude! Hier, bitte, ist der Eingang. Sie müssen sieben Stationen dorthin und zwei Stationen hierhin, alles wird in Ordnung gehen. Nur die etwas strenge Dame an der Ticket-Kontrollstelle zur U-Bahn winkt ab. Der Mann mit dem Ticket, der darf durch. Aber sein Koffer, nein, der ist zu groß. Der kostet. Mann gratis, Koffer muss zahlen.

Feature Kiev

Quelle: dpa

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"Welcome to Ukraine", sagen die Mädchen und lächeln verlegen. Nunja, es kostet zwei Hrivna, 20 Cent. Alle zucken mit den Schultern, alle lachen. Und die strenge Dame wünscht noch einen schönen Aufenthalt in Kiew (im Bild die "Fanzone").

Euro 2012: Deutschland - Portugal

Quelle: dapd

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Plötzlich war einer der beiden Tegernseer, ein riesiger Kerl von 120 Kilogramm, verschwunden. Er wolle jetzt eine Zigarette rauchen, deshalb gehe er schnell vor die Tür. Das Dumme war nur, dass im alten Flughafen-Terminal in Lemberg vor der Tür gleichbedeutend mit Rollfeld war, und blöderweise ist dann die Tür hinter ihm zugefallen. Doch kein Problem, er ging um das Gebäude herum und vorne wieder rein. Nach zehn Minuten war er zurück.

Die Lemberger haben ein wunderschönes, nagelneues und bestimmt sehr teures Terminal für die EM gebaut (im Bild Model Lena Gercke bei der Ankunft in Lemberg). Das steht nebenan und spielt hier keine Rolle. Das alte Terminal für innerukrainische Flüge ist so groß wie eine Dorfkirche im bayerischen Oberland. Die Eingangshalle bildet ein kleiner Kuppelbau, das Dach wird innen von stuckverzierten Säulen gehalten. Ein Angestellter verteilt die Bordkarten, sein einziger Helfer stellt die Koffer auf eine Waage. Der Fluggast nimmt sein Gepäck dann wieder entgegen, lässt es durch den Sicherheits-Scanner und übergibt es eigenhändig durch ein Loch in der Wand den Mitarbeitern, die das Gepäck auf einem Wagen zum Flugzeug fahren. Irrtum ausgeschlossen, dort stand nur eine Maschine: 7.10 Uhr nach Kiew.

Euro 2012: Deutschland - Portugal

Quelle: dapd

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Die beiden Fußballfans vom bayerischen Tegernsee mit dem Ziel Charkow, Deutschland gegen die Niederlande, freuten sich, endlich die Koffer los zu sein. Sie waren schwer gezeichnet. Die Nacht in Lemberg muss eine wilde gewesen sein. Mit unstillbarem Durst. Sie hätten Freundschaft geschlossen mit einem Russen aus Sibirien, wollten sie berichten. Aus ihren Mündern aber entwich: 'Mia hom oan troffa hint" aus Sibirien (sie winkten in die Ecke der Eingangshalle), mei liaba, der hod Wodka gsuffa, doleggstmiamarsch!' Da halfen auch ihre beachtlichen Wampn, die dem Tegernseer Bräustüberl alle Ehre machen, nichts. Das Duell mit dem Sibirier verloren sie deutlich. Morgens um halb sechs belebte der Wodka noch die humoristischen Züge. Die beiden freuten sich ungemein über diesen ungewöhnlichen Flughafen. Sie fühlten sich an ihre Heimat erinnert. 'Des is, wia wenn i in Tegernsee am Bahnhof sitz und auf"n Zug wart.' Abwechselnd kicherten sie in sich hinein und lachten laut auf, die Ukrainer unter den Wartenden blickten irritiert. Wer wird denn so gut gelaunt sein, in aller Herrgottsfrüh?

Dann nahm der eine seine riesenhafte Faust vor den Mund und rief im Basston: 'Achtung, Achtung. Auf Gleis eins fährt ein der Zug aus Schaftlach. Alles zurückbleiben, bitte!' Zwei Schweizer und ein paar Deutsche mussten inzwischen so viel lachen mit den Wodka-Opfern vom Tegernsee, dass Tränen liefen. Und weil eine solche Freude selbst um halb sechs Uhr morgens ansteckend ist, lachten auch die Ukrainer mit. Sag" noch mal einer, Wodka trägt nicht zur Völkerverständigung bei.

© Süddeutsche.de/mane
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