Der junge Mann zittert. Auf der Haut trägt er nichts als eine schmale Unterhose und fein nuancierte, von braun über beige bis terrakottarot verlaufende Farbschichten. Sein bemalter Körper verschmilzt mit der steinernen Rundbogenarchitektur hinter ihm, die jeder Romtourist sofort erkennt. Als zeitgenössisches Trompe-l'Œil ist er in sein Umfeld eingebettet: "Urbane Camouflage" nennt die Künstlerin Trina Merry ihren Versuch, den Betrachter optisch zu täuschen.
Letzte Sonnenstrahlen lassen den mörtellosen Ziegel im Rund des Amphitheaters rotgolden aufleuchten. Den Amerikaner auf der schattigen Grasnarbe an der Piazza del Colosseo wärmen sie nicht mehr. Seit drei Stunden verharrt Kyle James unter fahlem Januarhimmel in dieser Pose, den rechten Arm ausgestreckt, Daumen nach unten: eine Reminiszenz an den Pollice verso, den gesenkten, ein Gladiatorenleben vernichtenden Daumen. Ein unter Historikern umstrittenes, nichtsdestotrotz suggestives, von römischer Populärgeschichte durchtränktes Todesurteilskürzel. Merry hat ihrem Modell diese unbequeme Haltung aufgetragen, um auf Parallelen der Massenunterhaltung vom ersten nachchristlichen Jahrhundert bis in die Social-Media-Gegenwart zu verweisen: "Im Kolosseum wurde den Massen über diese Abstimmung suggeriert, sie besäßen Macht. So wie das heute die Casting Show ,American Idol' vorgibt."
Für ihre aktuelle Bodypaint-Serie bereist die Amerikanerin zurzeit gemeinsam mit ihrem Modell die berühmtesten Sehenswürdigkeiten der Welt - für manche die "sieben Weltwunder". Nicht die antike Liste, davon sind nur noch die Pyramiden von Gizeh zu sehen. Merry hält sich weitgehend an die Auswahl einer privat initiierten Abstimmung, an der zwischen 2004 und 2007 weltweit 90 Millionen Menschen teilgenommen haben.
Ihre Erlebnisse unterwegs sind sehr unterschiedlich. In Rom blieben die beiden unbehelligt, waren wie in einer "Blase aus Respekt", die zeige, wie gewohnt man dort im Umgang mit Künstlern sei, erzählt Merry. In Gizeh dagegen habe man Schmiergeld gefordert. "Ein Wachmann versuchte es bei uns, doch ich habe meine Kamera nicht aus der Hand gegeben", sagt Merry, "ich wusste: Ohne Bestechungsgeld bekomme ich sie sonst nicht zurück. Manche Fotografen zahlen wohl bis zu 1000 Dollar." Auch davon handelt ihr Bild, sagt Merry: "vom Verlust dieser Gesellschaft an einstiger Größe". Ägypten versinkt in Unrat, die Pyramiden werden mit wenig Rücksicht auf die Bausubstanz touristisch ausgeschlachtet. Kyle James ist absichtlich auf einem Steinruinen- und Müll-Hügel platziert. Den athletischen Körper trotzig aufgerichtet, verschwindet der Bemalte in der altägyptischen Pyramide und dem ätherischen, vom Trash des Hier und Jetzt unbeeindruckten Blau des Himmels: "Ich möchte zeigen, was endlich und was von Dauer ist", sagt die Künstlerin.
Wie wichtig es ist, die vermeintlich richtigen Orte bereist und abgehakt zu haben, auch darum geht es Trina Merry in ihrem Kunstprojekt: Vor dem Kolosseum in Rom, der Chinesischen Mauer, den Pyramiden von Gizeh und in der jordanischen Stadt Petra hat die 35-Jährige ihr Modell bereits in Pinsel- und Airbrush-Mimese verschwinden lassen. Warum es alle Touristen zu den gleichen Orten zieht, ist ihr erklärlich: "Etwas in uns strebt nach Höherem, und die Weltwunder repräsentieren eben genau das - die großen Taten der Menschheitsgeschichte." Zu Hause in New York City versucht Trina Merry, touristischen Sammelplätzen auszuweichen. "Aber für dieses Projekt bereise ich explizit die sehr touristischen Orte der Welt."
Und sie möchte ihrer habhaft werden, wie alle anderen Reisenden auch. Eine Auseinandersetzung mit dem Ort im schnellen Kameraklick vor Kolosseum und Co. sei schlechterdings unmöglich, so die Künstlerin. Im stundenlangen Sprühen, Tupfen, Wischen und Linienziehen mit ihren Malutensilien funktioniere sie allerdings schon: "Mein Projekt zwingt mich dazu, an diesen Orten viel länger zu verweilen. Ich rieche den Ort, ich fühle ihn buchstäblich, weil ich oft auf meinen Knien oder sogar ganz am Boden liege. Die Kälte, die Geräusche, sich ändernde Windrichtungen, plötzliche Regengüsse - all das gräbt sich in mein Bewusstsein ein."
Schon in der englischen Sprache, sinniert sie, sei dieser Unterschied zwischen Knipser und Künstler vorgegeben: "Es gibt einen Grund, warum wir das Fotografieren ,to take a picture' nennen. Man nimmt sich etwas, fast, als würde man einen Moment stehlen. Um später zu beweisen, dass wir dort waren. Nichts scheint stattgefunden zu haben, wenn es nicht auf Facebook erscheint." Es gehe nicht mehr darum, was man ist, sondern wo man gewesen ist. "Der Künstler hingegen macht ein Bild. Ich gebe dem Ort etwas zurück: Energie, Farbe, Gefühl." Ihre Werke lösen sich auf, "sobald ich beschließe, dass sie beendet sind", so Merry.
Das Fotoprojekt im Internet: www.trinamerryartist.com