Süddeutsche Zeitung

Reisebücher:Nach dem Wurmloch scharf links

Zwei fantasievolle Atlanten führen an schwer zu erreichende literarische Orte.

Von Stefan Fischer

Weder eine Billig-Airline noch ein Fernbus bringen einen nach Nimmer- und Wunderland, nach Blefuscu oder Mittelerde. Doch Cris F. Oliver tut unbeirrt so, als wäre es mit etwas gutem Willen durchaus möglich, all die fantastischen Orte der Literatur tatsächlich zu bereisen: Obschon etwa Oz in einem unbestimmten Teil der Galaxie liege, müsse man es sich nur während der Hurrikan-Saison in der Prärie von Kansas in einem Holzhaus gemütlich machen und warten, dass sich ein Wirbelsturm bildet, der einen mit sich trägt ...

Die Anreise ist also allemal organisierbar, und auch sonst spielt Oliver in seinem "Atlas literarischer Orte" mit den Chiffren der Tourismusindustrie. Der Autor hat Forschungsreisen im Portfolio auf der Spur des "Herr der Fliegen", Kulturreisen inklusive Reenactment (nach Camelot), eine Art Airbnb-Angebot (auf dem Asteroiden B 612, Vermieter ist der kleine Prinz), sowie in der Schule von Rok ein Nischen-Angebot für Individualisten, die das Mainstream-Ziel Hogwarts meiden wollen.

Was fehlt, sind die klassischen Strandferien. Bei Oliver gibt es Abenteuerurlaub in Gegenden, für die das Auswärtige Amt gemeinhin eine Reisewarnung ausspricht. Faktisch erlaubt das Buch auf kurzweilige Art, was die Briten Armchair-Travelling nennen: Reisen in der Fantasie. Julio Fuentes hat diesen Atlas illustriert, er bedient sich bekannter Elemente, etwa aus "Alice im Wunderland", schafft aber seine ganz eigene Ikonografie der Fantasiewelten.

Während in Olivers Atlas ausschließlich fiktive literarische Geografien verzeichnet sind, hat Sarah Baxter für ihren beinahe gleich betitelten "Atlas der literarischen Orte" reale Städte und Landschaften ausgewählt aus Romanen der Weltliteratur. Es sind Orte, die diese Werke dominieren durch ihren Charakter. Und, obgleich sie literarisch geformt sind, so die Autorin, gäben sie sehr wahrhaftige Auskünfte über die Realität. Weil Orte eben vor allem definiert werden durch Milieus und Mentalitäten. Mutmaßlich habe man mehr davon, wenn man Florenz empfinde statt die Stadt zu studieren, schreibt Baxter, sie also nicht durch den Filter eines Architekturführers wahrnimmt, sondern durch den von E. M. Forsters "Zimmer mit Aussicht".

Auch wenn die Orte in diesem ebenfalls - von Amy Grimes - hübsch illustrierten Atlas für sich genommen real existieren, haben sie Momente des Fantastischen. Von Bath, wie es Jane Austen von 1801 an erlebt hat, ist zwar noch die urbane Geografie erhalten, die Milsom Street ist nach wie vor eine wichtige Einkaufsstraße. Doch die High Society der Regency-Ära hat keine Entsprechung in der Gegenwart. Die Literatur schlägt Brücken in existierende Orte, die für Reisende dennoch kaum erreichbar sind. Näher als mit Khaled Hosseinis "Drachenläufer" kämen viele Afghanistan wohl kaum, so Baxter.

Sarah Baxter: Atlas der literarischen Orte. Entdeckungsreisen zu den Schauplätzen der Weltliteratur. Illustrationen von Amy Grimes. Aus dem Englischen von Barbara Sternthal. Christian Brandstätter Verlag, Wien und München 2019. 144 Seiten, 25 Euro. Cris F. Oliver: Atlas literarischer Orte. Von Wunderland bis Mittelerde. Illustrationen von Julio Fuentes. Aus dem Spanischen von Janika Krichtel. Knesebeck Verlag, München 2019. 128 Seiten, 18 Euro.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4506406
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 04.07.2019
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.