Süddeutsche Zeitung

Reisebuch:Verliebte Igel

Chris Yates wandert am liebsten nachts durch seine südenglische Heimat. Dabei macht er eigenartige Tierbegegnungen. Und erlebt eine menschenleere Natur. Diese Freiheit wünschten sich wohl gerade viele - nur unter anderen Vorzeichen.

Von Stefan Fischer

Am liebsten geht Chris Yates in der Dämmerung los. Dann gewöhnen sich die Augen leichter an die Dunkelheit. Der Engländer beobachtet auch gerne, wie sich die gewohnte Umgebung mit jeder Minute auf vielfältige Weise verändert. Jede Landschaft habe zwei Leben, schreibt Chris Yates in seinem Büchlein "Nachtwandern": eines bei Tag und ein komplett differentes nachts. Wenn das eine ins andere gleitet, verschmelzen ein paar Dinge mit dem Hintergrund, andere schälen sich deutlicher heraus. Es kann dann auch zu interessanten Aufeinandertreffen von tag- und nachtaktiven Tieren kommen, "wenn etwas frühe Fledermäuse und späte Mauersegler gemeinsam herabschießen oder der Dachs den Hasen überrascht".

Chris Yates findet mitunter eine recht blumige Sprache für seine nachtgrauen Beobachtungen. Bald würden die ersten Sterne am Himmel sichtbar, schreibt er über einen Aufbruch zu einer Nachtwanderung, "während sich die Gänseblümchen zu meinen Füßen, die den ganzen Tag ins Blaue schauten, eingefaltet hatten und nun Kindern glichen, die sich bei zudringlichen Verwandten die Hände vors Gesicht halten".

Zudringlich will Yates auf keinen Fall sein, denn nur wenn er sich ruhig verhält, wenn er ausharrt und von den Tieren nicht als Bedrohung wahrgenommen wird, kommen sie näher, und er kann sie beobachten. Insofern wandere er eigentlich auch nicht, er geht auf kein Ziel zu, sondern rastet viel, weil er sich von etwas hat in den Bann ziehen lassen. Yates mag dieses Ungewisse, er legt es darauf an, sich zu verlaufen, und genießt es, nicht alles restlos erkennen und bestimmen zu können.

Mitunter hat er jedoch auch sehr konkrete Erlebnisse. Einmal ist ein Reh auf Armeslänge herangekommen, von hinten. Yates hat das gemerkt, sich dennoch zu schnell umgedreht. Das Tier hat erschrocken gebellt - Rehe können das -, und zwar direkt in Yates' Gesicht, dann ist es davongestoben. Eine Erfahrung, die der Autor nicht noch einmal machen möchte. Yates versteht es, Hasen anzulocken, und beobachtet Ringeltauben, die den Vollmond ansingen, weil sie ihn offenbar für die aufgehende Sonne halten.

Was er beschreibt, ist ein Wandern durch eine vollkommen menschenleere Natur - das, was sich unter anderen Vorzeichen und vermutlich zu einer anderen Tageszeit gerade etliche Menschen wünschen: unterwegs zu sein in einem Revier, durch das sie ungestört stromern können, um an der frischen Luft zu sein, den Kopf frei zu bekommen. Im Idealfall, schildert der Mittsechziger, betrete er einen Raum der Zeitlosigkeit: "In der ungestörten und wenig mitteilsamen Dunkelheit schwindet die Bedeutung von Vergangenheit und Zukunft." Er existiert dann, wie die Tiere, ganz im Hier und Jetzt. Und zwar überhaupt nicht auf eine esoterische Art, sondern indem er mit voller Konzentration dem lauscht und auf das blickt, was im Augenblick um ihn her passiert: Geräusche wie "das manische Plappern einer Dachsfamilie, der widerhallende Ruf einer Eule oder das nach einer Spielzeugeisenbahn klingende Puffen eines verliebten Igels".

Das ist weit weg vom taghellen Alltag. Und doch verlässt Yates bloß sein Haus im Südwesten Englands, marschiert über eine Schafswiese, hinein in Wälder oder hinauf auf Kreidehügel. Hat die nötige Geduld und Erfahrung - und eine immense Neugier. So kommt er zu Erlebnissen, die man nur im zweiten Leben einer Landschaft haben kann.

Chris Yates: Nachtwandern. Eine Reise in die Natur. Aus dem Englischen von Frank Sievers. Insel Verlag, Berlin 2019. 152 Seiten, 16,95 Euro.

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SZ vom 09.04.2020
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