Süddeutsche Zeitung

Reisebuch:Stillstand

Der Fotograf Marko Volken ist mit Skiern über im Winter gesperrte Alpenpässe gegangen und gefahren. Die Bilder ohne Menschen und Fahrzeuge wirken seltsam aktuell.

Von Stefan Fischer

Tief verschneite Alpen, kaum einmal ist ein Mensch zu sehen in der unverspurten Landschaft - ein Skifahrer- und Tourengehertraum, den Marco Volken in seinem Bildband "Wintersperre" dokumentiert. Nun mag es in manch einem der vorzeitig geschlossenen Skigebiete und auch in vielen Tourenregionen zuletzt tatsächlich so ähnlich ausgesehen haben wie auf diesen Aufnahmen: Trotz hervorragender Wintersportbedingungen ist niemand im Gelände.

Der Fotograf Marco Volken war jedoch bereits in den beiden Wintern 2016 / 17 und 2017 / 18 unterwegs in den Schweizer Alpen - und auch nicht unbedingt dort, wo sich der Wintersport ballt. Volken hat vielmehr die winters gesperrten Alpenpässe überquert, selten auf Schneeschuhen, zumeist mit Skiern. Entstanden sind auf diesen Touren Bilder der Unversehrtheit und des Stillstandes - einer, zumindest bei Sonnenschein, Naturidylle.

Volken hat sich selbst ein paar Regeln verordnet: Er ist konsequent der Trasse der Passstraße gefolgt, wie bei einer sommerlichen Überquerung mit dem Auto oder dem Rad üblich, und er hat die jeweilige Strecke stets an einem Tag und in einem Zug zurückgelegt. Das war sicherlich nicht immer erquicklich, am Col du Chasseral etwa im Kanton Bern hat Volken einen scheußlichen Tag erwischt. Doch es diente dem Ziel des Fotografen. Speziell bei viel Schnee und erst recht, wenn der Nebel hereinzieht, ist kaum noch auszumachen, wo die Trasse verläuft. Im Sommer sind die Passstraßen leicht als markante Elemente der alpinen Infrastruktur auszumachen. In den Wintermonaten ist davon jedoch kaum noch etwas zu sehen. Mal schaut noch das obere Ende eines Schildes oder eines Begrenzungspfostens aus dem Schnee, mal sind die Leitplanken mehr zu erahnen als zu sehen. Doch je schlechter das Wetter ist, desto näher kommt Marco Volken dem Ziel seines Fotoprojektes: "Die Bildserien zeigen die Passübergänge im Zustand ihrer faktischen Nichtexistenz. Als Landschaften in der Schwebe, real und imaginär zugleich", schreibt er in seinem Vorwort für "Wintersperre". Wenn Hotels und Restaurants, Höfe und Tunnel in den Fokus geraten, so verstärken sie noch den Eindruck der Einsamkeit, weil sie verlassen sind und mitunter wirken, als wären sie für alle Zeit aufgegeben worden.

Wer jedoch glaubt, Marco Volken hätte die Alpen in einer Art Urzustand fotografiert, in einer vorindustriellen Beschaulichkeit, der täuscht sich. Die Wintersperre der Pässe ist nämlich ein eher neues Phänomen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Gotthardstraße war bis 1947 auch in den Wintermonaten geöffnet.

In einem anschaulichen Essay erläutert Martin Scharfe, emeritierter Professor für Europäische Ethnologie und Autor einiger Bücher zur Kulturgeschichte der Berge, dass die Alpenpässe in früheren Jahrhunderten auch im Winter stark frequentiert waren, teilweise stärker als in den Sommermonaten. Das liegt zum einen daran, dass die Menschen dann mehr Zeit hatten, ihre Waren zu transportieren - und dass sie bei einer Schneeunterlage Schlitten benutzen konnten, was den Transport erleichtert und beschleunigt hat.

Erst als die Eisenbahntunnel durch die Alpen gebaut wurden und sich die Autos verbreiteten, die nun einmal keinen festgetretenen Schnee als Untergrund gebrauchen konnten, verlagerte sich der Verkehr und wurden manche Alpenquerungen für die neuen Transportmittel unpassierbar. Die Ruhe, die dort einkehrte, abseits des Skizirkusses und all der auch im Winter immer stärker befahrenen Routen, war eine ganz neue.

Marco Volken: Wintersperre. AS Verlag, Zürich 2020. 190 Seiten, 39,90 Euro.

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SZ vom 02.04.2020
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