Reisebuch:Nudeln als Wurzeln

Weder die Pasta noch die Tomatensoße sind eine italienische Erfindung: eine Kulturgeschichte der Spaghetti al pomodoro.

Von Stefan Fischer

Womöglich ist Italien als Reiseziel auch deshalb so beliebt, weil die Küche des Landes recht unkompliziert ist und dadurch auch Fremden leicht zugänglich. Wer im Urlaub nach den von zu Hause vertrauten Gerichten verlangt, macht sich nämlich leicht als Banause unmöglich. Andererseits sind selbst der Experimentierlust kulinarisch durchaus aufgeschlossener Touristen Grenzen gesetzt. Insofern sind Pasta und Pizza perfekte Gerichte: Längst sind sie weltweit eingemeindet in die Speisepläne, gelten aber trotzdem nach wie vor als typisch italienisch.

Selbst wer eine Weltreise unternimmt, muss selten irgendwo verzichten auf einen Teller Nudeln mit Tomatensoße, wenn er es denn darauf anlegt - von welcher Qualität all diese Spaghetti al pomodoro im Einzelnen auch sein mögen. Denn auch dies gilt als Gewissheit: Nirgends schmeckt das einfachste aller Pastagerichte so gut wie in Italien. Hier hat es seinen Ursprung, es gehört zur italienischen Identität.

Der Autor Massimo Montanari macht in seinem Buch "Spaghetti al pomodoro" an dieser Stelle eine feine, aber maßgebliche Unterscheidung: zwischen der Identität und den Wurzeln. Die Identität sei, was wir sind. Die Wurzeln seien aber nicht das, was wir waren - sondern was uns beeinflusst hat, all die Begegnungen mit dem Fremden, der Austausch, die Summe von Schnittpunkten. Damit die Spaghetti al pomodoro von Italien in die Welt hinauskonnten, mussten erst einmal sehr viele Einflüsse, zum Teil von sehr weit her, in Italien zusammenkommen. Die Pasta ist keine italienische Erfindung, die Tomate kein italienisches Gemüse. Und beides hat sich in der Küche des Landes erst einmal getrennt voneinander etabliert.

Die Ursprünge der Tomatensoße lägen, so der Autor, in Mexiko, über Spanien ist sie in das spanisch beherrschte Neapel gelangt - dort war sie dementsprechend erst einmal die "Spanische Soße". Gereicht wurde sie eher zu Fleischgerichten. Erst im späten 18. Jahrhundert verdrängte sie allmählich den Käse als wesentliche Beigabe der Pasta. Montanaris kluges Büchlein - der Autor leitet den Studiengang Geschichte und Kultur der Ernährung an der Universität in Bologna - ist eine Kulturgeschichte, aber auch ein Reisebuch. Es führt durch die Zeiten und über Kontinente. Wie auf jeder Reise, bei der man sich Zeit nimmt und Neugier aufbringt, erkennt man, dass die Dinge oftmals komplexer und spannender sind, als sie auf den ersten Blick scheinen. Und vielleicht auch gar nicht so selbstverständlich, wie wir mitunter meinen. Basilikum etwa wurde lange als schädlich angesehen, die Blätter sind eine sehr junge Beigabe. Gegen Ende seines Buches erzählt Massimo Montanari eine Schnurre: Die BBC hat 1957 eine Dokumentation ausgestrahlt, über Italiens Küche, in der es um Spaghettibäume und eine überaus ertragreiche Ernte ging - ein Aprilscherz. Der vor drei Generationen nördlich der Alpen offenbar noch gezündet hat.

Wie weit der Autor aber auch ausholen muss, welche Routen er auch nimmt: Er landet stets wieder in seiner Heimat Italien vor einem Teller Pasta - oder einem ganzen Berg davon wie in einer Schlaraffenlandgeschichte aus Giovanni Boccaccios "Decamerone". Von Sizilien und Sardinien über Neapel bis nach Genua und Venedig führt seine Reise. Durch die (historischen) Küchen und Restaurants des Landes, mit Kochbüchern als Reiseführern.

Bei Tisch lernt man eine Stadt, Region oder gar ein Land so gut kennen wie sonst wohl nur am Tresen. Wer sich nun dazusetzt und so naiv ist, sich zu erkundigen nach der wahren, der originalen Rezeptur von Spaghetti al pomodoro, muss sich von Montanari sagen lassen, dass es gerade der Variantenreichtum lokaler Facetten sei, der es überhaupt erst ermöglicht habe, dass sich die Italiener verständigen konnten auf den identitätsstiftenden Charakter dieser Mahlzeit.

Massimo Montanari: Spaghetti al pomodoro. Kurze Geschichte eines Mythos. Aus dem Italienischen von Victoria Lorini. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2020. 144 Seiten, 19 Euro.

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