Süddeutsche Zeitung

Reisebuch:Mit Mut und Lebenslust

Lesezeit: 2 min

Alexandra Endres reist nach Mexiko und findet Menschen, die trotz Armut eine schöne Geschichte zu erzählen haben.

Von Stefan Fischer

Auch in Mexiko haben sich Menschen mit dem Coronavirus infiziert, etwa 16 000 an der Zahl. Rund 1500 Menschen sind an den Folgen bislang gestorben. Auch dort ist die Lage also ernst. Doch Mexiko hat, so bitter das klingen mag, gravierendere Probleme. Allein im März sind doppelt so viele Menschen in dem Land ermordet worden, wie bislang insgesamt in Mexiko an Covid-19 gestorben sind.

Die Gewalt, angefacht von der Drogenmafia, hat in Mexiko seit einigen Jahren ein unfassbares, ein erschreckendes Ausmaß. In dieses Land ist die Journalistin Alexandra Endres vor zwei Jahren gereist, um mit eigenen Augen zu sehen, wie Mexiko sich verändert hat seit ihrem ersten Aufenthalt 2004 und 2005. Kurz darauf ist der Drogenkrieg eskaliert.

Zwei Monate ist Endres geblieben, mit dem Ziel, "nach den schönen Geschichten zu suchen". Und dabei, schränkt sie ein, die anderen, negativen nicht zu übersehen. Man müsste ohnehin furchtbar naiv sein, wenn man die Armut, die Konflikte und die Bedrohung bei einer Reise durch dieses Land nicht wahrnimmt. Doch Alexandra Endres steuert bewusst und entschieden auf etliche der Probleme zu und trifft dabei eine ganze Reihe Menschen, die sich diesen immensen Herausforderungen stellen, die nach Lösungen suchen oder wenigstens nach einem Ausweg.

Endres' Reise, von der sie in ihrem Buch "Niemand liebt das Leben mehr als wir" erzählt, beginnt im Süden. In der ärmsten Region eines armen Landes. Dort leben auch die meisten derer, die sich als Indigene begreifen. Ihre jeweilige Kultur, ihre Sprache und Geschichte werden an den Rand gedrängt. Sie spielen im nationalen Bewusstsein keine Rolle und dementsprechend auch nicht im Schulunterricht.

Es sind diese Außenseiter und ihre wirtschaftlich instabilen Gemeinschaften, die als erste mit den noch weniger privilegierten Flüchtlingen aus Mittel- und Südamerika konfrontiert werden. Die Vereinten Nationen schätzen, dass jedes Jahr eine halbe Million Menschen versucht, Mexiko zu durchqueren, um in die USA zu gelangen. Der Großteil strandet unterwegs und verschärft die sozialen Probleme.

Immer wieder stellt die Autorin aber auch fest, dass sie es ist, die hier zur Außenseiterin wird. Als Journalistin und vergleichsweise reiche Deutsche stehen ihr manche Menschen skeptisch gegenüber, wollen sich nicht ausfragen lassen. Die Zapatisten in Chiapas etwa kommunizieren im Grunde nur noch über ihre eigenen Medien. Aber auch Mexikaner ohne politische Agenda sind vorsichtig gegenüber Fremden. Das müssen nicht einmal Ausländer sein. Sich mit den falschen Leuten einzulassen oder am falschen Ort zu sein, kann einen leicht das Leben kosten.

Umso bemerkenswerter sind Endres' Begegnungen mit Menschen, die das nicht hinnehmen, die mutig sind und für ihre Sache einstehen. Da ist Yazmín Novelo aus Yucatán, eine Kulturwissenschaftlerin, Radiosprecherin und Sängerin, die bei ihren Auftritten selbstbewusst für ihre Maya-Identität kämpft. Da ist Alejandro Hernández Yañez, der in Chiapas Wälder vor der Abholzung schützt, weil er erkennt, wie wichtig sie für die Wasserversorgung des Landes sind. Und da sind die verzweifelten Frauen in Sinaloa, die sich zusammengeschlossen haben, um ihre verschwundenen Verwandten zu suchen. Weil es die korrupte Polizei nicht tut. Zu diesen Frauen gehört auch die Radiojournalistin Dulcina Parra, die sagt, dass "verschwinden" in Lateinamerika nichts sei, was man tue, sondern das widerfahre einem. Sie alle erzielen Fortschritte, ihr Self Empowerment stärkt ihr Selbstwertgefühl.

Normalität ist in Mexiko etwas Prekäres, das erlebt Alexandra Endres immer wieder. Das führt tatsächlich, wie von ihr erhofft, zu etlichen "schönen Geschichten". Weil jeder kleine Erfolg kostbar ist, weil es weniger Oberflächlichkeit gibt in den Begegnungen, weil viele Angelegenheiten von großer Dringlichkeit sind.

Mexiko ist reich an Kultur und Traditionen, reich also an Geschichten. Und weil Alexandra Endres die in Beziehung setzt zum Alltag der Menschen, blickt sie hinter der Kulisse aus Gewalt und Armut auf Lebensmut. Ihr eigenes Fazit am Ende der Reise: "Meine Neugier ist noch größer geworden."

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Quelle:
SZ vom 30.04.2020
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