Das künstlerische Irkutsk? Eine Art Paris. Nischni Nowgorod, größter Standort der Autoindustrie? Erinnert an Detroit. Der Kurort Sotschi? Erscheint als eine Mischung aus Kitzbühel und Sylt. Und Tscherepowez mit seinem gigantischen Stahlwerk? Im Grunde der Ruhrpott.
Insgesamt 26 Punkte auf der Landkarte, darunter Millionenmetropolen, mittelgroße Gemeinden und Hundert-Seelen-Dörfer, porträtieren die Autoren des Bandes "Russland - Menschen und Orte in einem fast unbekannten Land", einigen stellen sie hierzulande vertrautere Äquivalente entgegen. Womöglich, um das vom internationalen Tourismus so unerschlossene Russland ein klein wenig greifbarer zu machen.
Die kurze Einführung zu Beginn jedes Kapitels informiert allgemein über die Städte, ein Gesicht bekommen sie jedoch durch die Interviews. Einen Rettungsschwimmer, eine Ballerina und einen Schachlehrer lernt man so kennen - Menschen, die Kaliningrad, Rostow am Don oder Ulan-Ude ihr Zuhause nennen. Die Autorinnen Jessica Schober aus Frankfurt und Wlada Kolosowa aus St. Petersburg sind mit den russischen Fotografen Olga Matweewa und Evgeny Makarov durchs Land gereist; alle sind während der Entstehung des Buches erst in ihren Zwanzigern.
Die Geschichten sind so unterschiedlich wie das Land: manche kurios wie die über die Katzenheim-Besitzerin Nastja Ildiz. Manche sind Auseinandersetzung mit der Vergangenheit wie der Bericht aus Magadan, ehemaliger Standort eines Zwangsarbeitslagers. Die Interviews mit dem Oberhaupt der buddhistischen Gemeinde und dem Mufti von Tatarstan zeigen die religiöse Vielfalt der Nation. Und durch viele Gespräche zieht sich der Wandel. "Russland erwacht ökologisch", sagt etwa Anna Belowa. Die 26-Jährige arbeitet für eine Umwelt-NGO am Baikalsee. Der Juraprofessor und Jugendarbeiter Alexej Serij aus Smolensk behauptet, bei den jungen Russen finde ein Umdenken statt. Jugendliche würden gewissenhafter leben als ihre Eltern, das Land befinde sich im "Zustand der Suche". "Die Mentalität der Russen hat sich verändert", sagt auch Alexander Naroditskij, russischer "Unternehmer des Jahres". Die Gesellschaft begreife, dass man Fehler auch bei sich selbst suchen müsse. Den Jungen bescheinigt er Autonomie und Tatendrang. Was allerdings auffällt: Die Autoren zeichnen fast durchweg ein positives Bild Russlands. Kritische Stimmen, etwa zum wachsenden Nationalismus, gibt es kaum.
Das Buch verzichtet auf Kneipentipps, die Vorstellung hipper Szeneviertel oder beeindruckender Bauwerke. Der Fokus liegt auf den Menschen. Dabei entfernen sich manche Porträts zu sehr von ihrer Umgebung. Anton Kuklin beispielsweise darf die Geschichten zu jedem seiner Tattoos erzählen und warum er Kickboxen mag. Was Wladiwostok damit zu tun hat, erfährt der Leser nicht. Kuklin könnte auch aus Chicago sein, Paris oder Oberhausen.
Jessica Schober, Wlada Kolosowa, Olga Matweewa und Evgeny Makarov, Heino Wiese (Hrsg.): Russland - Menschen und Orte in einem fast unbekannten Land. Corso Verlag, Wiesbaden 2015. 176 Seiten, 24,90 Euro.