Reisebuch "Ich ist der Andere":Mein Brieffreund

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In Venedig fegt am Morgen ein Mann den Markusplatz, während ein Brautpaar ihm zuschaut. (Foto: Leo Fellinger)

Der Fotograf Leo Fellinger blickt auf viele Reisen zurück. Dabei stöbert er in der Post, die er einst von unterwegs an sich selbst geschrieben hat.

Rezension von Sarah Zapf

Viele schreiben Postkarten aus dem Urlaub. Der österreichische Fotograf Leo Fellinger verfasst stattdessen Briefe auf seinen Reisen. Und adressiert sie: an sich selbst. In seinem im Otto-Müller-Verlag erschienenen autobiografischen Reisetagebuch "Ich ist der Andere" unternimmt er nun ein spannendes Experiment, um seinen eigenen Reiseerlebnissen nach Jahren wiederzubegegnen und über das "Ich" zu staunen, das die Briefe einst verfasst hat. Als gleichzeitiger Schreiber und Leser der Briefe ergründet Fellinger sein damaliges und jetziges "Ich" in eigenen Gedanken und Gefühlen, indem er Erinnerungen an die Vergangenheit beschreibt. Im Buch vereint er seine Geschichten mit monochromen Fotografien, die an den bereisten Orten entstanden sind.

Fellinger nimmt den Leser mit an sechzehn Orte, die alle eine besondere Schönheit aufweisen und die von inspirierenden Menschen erhalten werden. Er beschreibt das traurige Gespräch mit Guistina, einer älteren Kaffeehausbesitzerin in Venedig. Sie offenbart ihm ihre Sicht auf die mythenüberlagerte, einstige Weltmetropole, die ihrer Auffassung nach am Tourismus zugrunde geht. Fellinger fängt das Treibenlassen und das Getriebensein der Lagunenstadt ein, die von der stillen Abwanderung der Einwohner geprägt ist.

In dem unaufgeregten toskanischen Städtchen Poppi verweilen Männer auf einer Bank in einer der zahlreichen Gassen. (Foto: Leo Fellinger)

Von Venedig fährt er nach Sankt Gerold im Großen Walsertal, dort in das gleichnamige Kloster, in dem er der Atmosphäre des freien Geistes, der Menschenliebe und der schöpferischen Kraft nachspürt, mit der einst Pater Nathanael Wirth den Ort geprägt hat. Auf Sylt erlebt Fellinger die beschauliche Langsamkeit der Vorsaison und ist fasziniert vom Rhythmus des Meeres, den Gezeiten. Die Insel strahlt für ihn eine fesselnde Urtümlichkeit aus. Er erzählt von der Begegnung mit dem letzten Krabbenfischer auf Sylt, dem 76-jährigen Paul Walter, der ihm seine Welt beschreibt: ein alter Seefahrer, der ins Schwärmen gerät, wenn er von seinem Leben auf dem Kutter erzählt.

Auf der Nordseeinsel Sylt finden sich viele Häuserdächer, die in alter Tradition mit Reet gedeckt werden. (Foto: Leo Fellinger)

Die Reise führt auch an die amerikanische Westküste nach San Francisco, über deren Status als vermeintlich schönste Stadt der Welt sich Fellingers Meinung nach streiten lässt, aber die nichtsdestotrotz voller Besonderheiten sei. Eine Stadt mit bis zu 2000 Stunden Nebel im Jahr, herausragenden Persönlichkeiten und zig Hauseingängen, in denen die vielen Obdachlosen bei Regen schlafen. Alle Reiseerfahrungen führen Fellinger zu einem weiseren, wenn auch älteren "Ich".

Als Leser fühlt man sich nicht nur mit dem Verfasser in einer geradezu vertrauensvollen Brieffreundschaft verbunden, sondern taucht selbst auf eine wundersame Art in das erzählte Geschehen und Erleben ein, als säße man direkt neben dem Schreiber. Dabei sind die Geschichten mehr als reine Reiseerlebnisse. Momentbezogene Fragen werden aufgeworfen, bleiben in den Briefen aber unbeantwortet. Damit zieht sich ein philosophisches Band durch das Buch, das den Blick auf die eigene Existenz, das Dasein und die Sinnsuche lenkt. Zitierte Gedichte, etwa von Juan Ramón Jiménez oder Hermann Hesse, weiten den Blick auf den beschriebenen Reisemoment und die sich wandelnde Identität des jeweiligen "Ichs".

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Die Fotografien sind eine wertvolle Ergänzung der Briefe. Sie zeigen einerseits ganzseitige szenische Aufnahmen. Etwa einen Mann in Venedig, der am Morgen den Markusplatz mit einem Reisigbesen fegt, während ein Brautpaar ihm zusieht. Andere Aufnahmen haben etwas Meditatives, offenbaren eine Weite - wie das im Sonnenlicht glitzernde, sanft hin und her wogende Meer in Südschweden. Mal sind es Menschen, unbemerkt im Alltagstreiben fotografiert oder direkt porträtiert, mal Statuen und Architektur, dann wieder detaillierte Naturaufnahmen. Nicht immer sind alle in den Briefen beschriebenen Szenen und Personen in den Fotos dargestellt, aber in jedem Fall entfaltet sich eine anregende Perspektive des Erlebten und Beobachteten.

"Ich ist der Andere" offenbart durch die Mischung von Briefen und Fotografien das Besondere im Alltäglichen, das Neue im Unvergänglichen, das Nahe im Fernen. Die immerwährende wertschätzende Briefwortwahl, die Fellinger in allen Geschichten nutzt, zeigt auch ein in sich geschlossenes, liebevolles Gespräch des vergangenen und jetzigen "Ichs". Die ergänzenden Fotografien bieten Raum, als Leser selbst verborgene Geschichten hinter den Momentaufnahmen zu erkennen und die Schwarz-Weiß-Bilder im geistigen Auge mit Farbe zu füllen. Fellinger zeichnet so Zufluchtsorte für suchende Seelen inmitten einer rastlosen Welt, die doch unvergleichlich und bezaubernd ist. "Ich ist der Andere" ist Erleben und Lernen zugleich, das ermuntert, selbst eine Reise zum eigenen Ich anzutreten.

Leo Fellinger : Ich ist der Andere. Oder: Briefe an mich. Otto Müller Verlag, Salzburg-Wien 2021. 207 Seiten, 49 Euro.

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