Süddeutsche Zeitung

Reisebuch "Jours Blancs":Blick ins weiße Nichts

Bei besonderem Licht werden schneebedeckte Pisten und der wolkenverhangene Himmel eins in den winterlichen Alpen. Diese Stimmung nutzt der Fotograf François Schaer für irritierende Aufnahmen des Skitourismus.

Von Stefan Fischer

Diese Pointe haben sich der Fotograf François Schaer sowie die Grafiker des Kehrer Verlags nicht verkneifen wollen: Blättert man den Bildband "Jours Blancs" auf, so verschwinden auf dem ersten Bild die vier Seile einer Bergbahn mitsamt einer Gondel im Nebel.

Die Aufnahme hat weiters keine Struktur, keine erkennbare Begrenzung. Der Betrachter steht wie der Fotograf unter der Bahn, die Seile kommen über ihm in sein Blickfeld und verschwinden nach wenigen Metern wieder Richtung Fluchtpunkt in einem Weiß, das beinahe wie ein Nichts erscheint. Just an dieser Grenze zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren schwebt die Kabine.

Blättert man einmal weiter, ist das Motiv noch reduzierter: zwei Reihen rot-grauer Stangen, die eine Skipiste begrenzen. Die Stangen jeder Reihe sind mit einem Seil verbunden, daran flattern kleine, rot-weiße Plastikbändchen. Auch diese spartanische Infrastruktur verliert sich in nebligen Schwaden, löst sich für den Betrachter auf.

Noch einmal umgeblättert, blickt man auf das absolute Nichts, sucht kurz nach der dezenten Ahnung eines Motivs - und erkennt, dass auf der dritten rechten Seite dieses Buchs schlichtweg gar kein Foto abgebildet ist. Diesmal steht es auf der linken Seite: ein Seilbahnmast, ein Warnschild, sehr diffus. Alles wie bisher gehabt. Aber rechts daneben, das wäre eben der totale White-out, eine Lichtstimmung, kombiniert aus besonderer Helligkeit, dem schneebedeckten Boden und gedämpftem Sonnenlicht, in der sich alles Sichtbare auflöst.

Doch dann: alpine Panoramen, Porträts einzelner Personen, Menschengruppen, Menschenmassen. Eingestreut technische Anlagen, ein Bergrestaurant, dazu nächtliche Langzeitbelichtungen mit Leuchtspuren von Pistenraupen wie aus Science-Fiction-Filmen. Aber eben auch immer wieder: ein alle Konturen und Farbtöne verschlingendes Weiß. Das nicht zwingend unheimlich wirkt, sondern manchmal auch gnädig.

Es gibt eine Aufnahme aus dem Wallis, aus dem Skigebiet Arolla, zu sehen sind die felsigen, nicht zu befahrenden Abhänge irgendwelcher Berge. Die Luft ist schneegefüllt - vielleicht ist es wieder nur Nebel, vielleicht bläst ein heftiger Sturm die Flocken zu eisigen Wänden zusammen. Das sind die wahrscheinlichen Erklärungen.Was man sieht, ist etwas anderes - es kann nicht sein, das begreift man, aber das Bild sieht aus, als wäre es aus dem Inneren einer Lawine aufgenommen, Bruchteile von Sekunden, ehe der Fotograf von den Schnee- und Geröllmassen fortgerissen wird. Dann schon lieber das Nichts als ein Vorhang, der das Grauen verhüllt.

In "Jours Blancs" dokumentiert François Schaer, wie irreal die weißen Tage in den Bergen sein können. Die pure Wildnis, die der Mensch massiv, zum Teil brachial domestiziert hat - ohne dass sich die Alpen wirklich bändigen ließen. Aber sie sind inzwischen eben beides. Hier naturbelassen und gleich daneben ein großer Abenteuerspielplatz. Wobei Schaer nicht das Spiel gute Natur gegen böse Zivilisation spielt. Blau, rot, gelb, violett - die Farben der Anoraks, der Werbetafeln, der Fangnetze geben einen optischen und auch einen emotionalen Halt in der brutalen Neutralität des winterlichen Weiß der Berge.

Sie signalisieren Leben in einer lebensfeindlichen Umgebung, das dann aber wieder wie nicht von dieser Welt erscheint - siehe die leuchtschwerterartigen Lichtspuren der Pistenwalzen oder die aerodynamischen Rennanzüge der Speed-Skifahrer. François Schaer bringt die Ästhetik der Alpen und die der Skiindustrie zusammen. Mensch, Technik und Natur werden auf seinen Fotografien eine Einheit. Und bei aller Fremdartigkeit zeigen sie nichts als: die blanke Realität. Die weißen Tage eben.

François Schaer: Jours Blancs. Kehrer Verlag, Heidelberg 2014. 100 Seiten, 39,90 Euro.

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Quelle:
SZ vom 31.12.2014/ihe
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