Süddeutsche Zeitung

Reisebuch "Bilder aus einer Welt der Extreme":Auf schmalem Grat

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Der Fotograf, Extrembergsteiger und Oscar-Preisträger Jimmy Chin macht Bergbilder, wie sie kaum einem anderen gelingen. Die besten Fotos können Gefühle erfassen.

Rezension von Stefan Fischer

Ein Lebenswerk. Auch: ein Überlebenswerk. Trotzdem es wohl noch nicht abgeschlossen ist. Dennoch wirkt Jimmy Chins fulminanter Band "Bilder aus einer Welt der Extreme" auf faszinierende Weise in sich geschlossen, ja: komplett.

Der 49-jährige Amerikaner Chin, Sohn chinesischer Einwanderer, ist Fotograf, Filmemacher, Kletterer und Extrembergsteiger. Den meisten Menschen dürfte er bekannt sein als Regisseur des Films "Free Solo", der die Durchsteigung des annähernd 1000 Meter hohen Granitfelsens El Capitan im Yosemite-Nationalpark ohne Seil und andere technische Hilfsmittel durch den Freikletterer Alex Honnold dokumentiert. "Free Solo" wurde unter anderem 2019 mit dem Oscar als bester Dokumentarfilm ausgezeichnet.

Chins Bilder sind nicht nur deshalb außergewöhnlich, weil er von Standorten aus fotografiert, die für die allermeisten Menschen unerreichbar sind. Sie sind vor allem auch durch ihre Komposition, durch die Lichtverhältnisse und Perspektiven sowie den gewählten Ausschnitt herausragend. Einige von Chins Aufnahmen waren auf den Titelseiten von National Geographic und New York Times Magazine zu sehen, andere wurden im New Yorker und in Vanity Fair veröffentlicht.

Sechs Jahre, bevor Jimmy Chin und seine Frau Elizabeth Chai Vasarhelyi "Free Solo" drehten, war Chin bereits mit Alex Honnold im Yosemite Valley unterwegs. Eine der Fotografien - sie wurde ein National-Geographic-Cover - zeigt Honnold, wie er im Half Dome mit dem Rücken am Fels steht, auf der Thank God Ledge, einem gerade mal fußbreiten Sims, ungesichert natürlich, und in die Ferne blickt. Wie er dorthin gelangt ist, über den glatten Fels, und wie er weiter nach oben kommen würde, erschließt sich einem im Grunde nicht.

Klar, Talent und Können, Mut, hartes Training sowie eine penible Vorbereitung führen im besten Fall dazu, solche Wände zu durchsteigen. Man sieht es und kann es doch kaum glauben. Jimmy Chin bringt einem diese Leistungen näher, macht sie etwas begreifbarer - durch seine knappen Texte, vor allem aber durch seine Fotografien.

In seinem Vorwort schreibt Conrad Anker: "Die besten Fotografien können Gefühle erfassen oder uns an einen Ort versetzen, der uns Geist und Augen öffnet und damit Impuls ist für unsere Kreativität und einen tief empfundenen Gleichmut." Anker ist selbst ein exzellenter Bergsteiger und Felskletterer, er war es, der 1999 in der Nordwand des Mount Everest die Leiche von George Mallory gefunden hat, der 1924 bei dem Versuch, als erster Mensch den höchsten Berg der Welt zu besteigen, ums Leben gekommen war.

Anker und Chin haben viele Touren miteinander unternommen, die erste sollte im Jahr 2001 auf den K7 führen, eine knapp 7000 Meter hohe "alpine Festung", so Chin, im pakistanischen Teil des Karakorum. Nach sechzehn Tagen am Berg - vorgesehen waren zehn, insofern wurden die Vorräte denkbar knapp - mussten die beiden sowie Brady Robinson aufgeben, zu wild tobten die Stürme, zu heftig gingen die Lawinen ab.

Immer wieder war Jimmy Chin in Gefahr, das bleibt nicht aus bei dieser Profession, bei dieser Berufung. Gewiss hatte er auch Glück, nicht immer hat man sein Schicksal selbst in der Hand in solchen Extremsituationen. Ein Hasardeur jedoch ist er nicht, dafür ist dieses Buch zu wenig auftrumpfend. Vielmehr spricht aus den Texten und den Bildern Demut: vor den Naturgewalten, den tiefen Empfindungen in diesen menschenfeindlichen Einsamkeiten, dem Privileg, all dies leisten und erleben zu können.

Er versuche, schreibt Jimmy Chin, "jedes Bild mit einem Gefühl für den Ort zu füllen, das hoffentlich einen Eindruck des Ganzen vermittelt". Tatsächlich gibt es eine ganze Reihe Fotografien, die genau das leisten: Sei es im Charakusagebiet in Pakistan mit den bizarren Felsformationen Fathi Brakk und Parhat Brakk, sei es am Kaga Tondo in Mali, einem 760 Meter hohen Sandstein-Felsturm, sei es am Shark's Fin im Massiv des Mount Meru in Indien. In den besten Fällen holt einen Jimmy Chin mit hinein in seine Bilder, und man betrachtet sie nicht bloß aus der Distanz des Lesers, sondern es fühlt sich beinahe so an, als nähme man selbst eine Position ein auf dem Gipfelgrat des Mount Everest oder auf halber Strecke hinauf auf den Ulvetanna in der Antarktis.

Manchmal sind es Menschen, Extremkletterer wie er selbst, die im Fokus von Chins Aufnahmen stehen. Meistens aber werden sie zu Randfiguren, und es sind die Berge, die den Charakter der Fotografien bestimmen. Um die geht es, um ihre Schönheit und die Faszination, die sie ausstrahlen. Und nicht um irgendwelche Leute, die, um es mit Alex Honnold sagen, ein bisschen in ihnen herumkraxeln.

Jimmy Chin : Bilder aus einer Welt der Extreme. Aus dem Englischen von Maria Meinel. Prestel-Verlag, München / London / New York 2022. 320 Seiten, 50 Euro.

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