Reisebuch:Istanbuls Weite

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Auch in den Jahren von Recep Tayyip Erdoğans autokratischer Herrschaft hat sich die Stadt am Bosporus viel von ihrer Anarchie bewahrt.

Von Stefan Fischer

Erhabenheit sucht man vergeblich in den Fotografien von Maria Sewcz. Dabei bietet Istanbul davon eine Menge. Die Stadt krümme sich geradezu unter den Beschreibungen, die ihr seit Jahrhunderten huldigen, bemerkt Monika Rinck in ihrem poetischen Text am Ende von Sewczs Bildband "TR 34; Istanbul". Doch die Stadt verändert sich. Was sie einst ausgemacht hat, tritt im Alltag der Bewohner in den Hintergrund. "Heute, sagen die Leute, sei die Stadt hässlich wie ein Gedicht", schreibt Rinck.

Ein schönes Paradox, so wie auch Maria Sewcz den Widersprüchen Istanbuls nachspürt in ihren Bildern. Sie hat sie zu Paaren kombiniert, und oft muss man sie eine geraume Weile betrachten, bis man erkennt, wie die einzelnen Motive in Bezug zueinander stehen - und was sie einem über die Metropole am Bosporus erzählen.

Die Aufnahmen zeigen nicht die schönen Seiten. Sie dokumentieren, wie Istanbul sich am Leben hält, obwohl alles immer enger, immer größer, womöglich auch immer prekärer wird. Wie sich andererseits der Reiz einer Metropole nicht erschöpft in ihren Sehenswürdigkeiten, im touristisch leicht Konsumierbaren. Maria Sewcz findet eine "halbgemachte Stadt", so nennt Monika Rinck den aktuellen Zustand. Sie zeigt dieses Puzzle aus verfallendem Alten, Brachen und einer neuen Hochhausarchitektur, die teils schon fertiggestellt ist, häufiger aber sich gerade im Bau befindet.

Mitunter sieht es aus, als würden sich die Milieus in Zwischenräumen einnisten, überall dort, wo sich ein Platz auftut. Wer einen hat, verteidigt ihn wehrhaft: Gitter, Zäune, Mauern prägen das Stadtbild. Die Fotografin sucht nach den Öffnungen, nach schmalen Durchgängen, die einen Blick erlauben auf die offene Weite Istanbuls, auf das Panorama der Stadt. Maria Sewcz spielt dabei mit den Klischees, bricht mit vermeintlichen Gewissheiten. Es gibt ein Bildpaar, da sieht man auf einer Aufnahme einen in Folie eingeschweißten Gegenstand, auf der gegenüberliegenden vermummen Kinder ihre Gesichter - es ist bitterkalt, sie spielen im Schnee. Die Verhüllung, die auch eine Gängelung sein kann, findet hier auf symbolhafte Art ihren Ausdruck als Schutz.

In einem anderen Bildpaar sehen wir die Silhouette einer verhüllten Frau, die über das Goldene Horn hinüberblickt, sowie Aussichtsbalkone, ohne wirklich zu sehen, wer hier was in den Blick nimmt. Istanbul, eine rätselhafte Stadt, wo das Beobachten nichts Vergnügtes, Aufgeschlossenes hat, sondern sinistre Züge. Oder ist das nur das Bild, das sich skeptische westliche Betrachter derzeit von ihr machen, weil sie die Türkei oder den Islam oder beides vor allem als eine Bedrohung wahrnehmen und ihre Befürchtungen in jedes Bild hineinprojizieren und Harmlosigkeit von vorneherein nicht in Betracht ziehen?

In dem Buch ist weniges offensichtlich. Wer will, findet viele Vorurteile bestätigt. Dafür braucht man allerdings keine Neugier. Wer die indessen aufbringt, und darauf setzt Maria Sewcz, entdeckt eine spannende Stadt. Die so groß ist, dass sie vieles auf einmal und ohne Probleme nebenein ander sein kann. In der sich die Struktur einer fleckigen Wand wiederfindet in einem Ausschnitt des Meeres, das übervoll mit Quallen ist - sich also Parallelen auftun zwischen dem Unverrückbaren und dem Fluiden, zwischen Starre und Bewegung. Eine Stadt, in der auch viel Platz ist für Verrücktheiten: eine Tapete an einer Außenmauer etwa, und ein Haus, das um eine Baumgruppe herumgebaut worden ist, deren Stämme aus dem scheinbar dennoch dichten Dach ragen.

Wenn der Eindruck, den Maria Sewcz erweckt, nicht täuscht, dann hat sich Istanbul in den Jahren von Recep Tayyip Erdoğans autokratischer Herrschaft viel Anarchie bewahrt. Und begreifen die Bewohner der Stadt den öffentlichen Raum als Teil ihres privaten Einflussbereiches, den sie im Kleinen nach ihrem Gusto gestalten. Im Schatten der großen Veränderungen.

Maria Sewcz : TR 34; Istanbul. Hartmann Books, Stuttgart 2018. 136 Seiten, 34 Euro.

© SZ vom 11.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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