Süddeutsche Zeitung

Reisebuch:Die Wand zur Welt

Thomas Wrede würde sich nicht Reisefotograf nennen, er ist auch eher ein Illusionist - und verwandelt Wohnungen in Landschaften.

Von Stefan Fischer

Oftmals liefert die Fotografie, gerade auch die Reisefotografie, Sehnsuchtsbilder. Das Verlangen nach Fremde, nach Sonne, nach Abenteuer oder aber nach Ruhe entsteht dabei im Kopf des Betrachters. Thomas Wrede indessen, der sich nicht als Reisefotograf versteht, macht diese Sehnsucht zum Bestandteil seiner Bilder selbst. In den klug komponierten Aufnahmen seiner Fotoserie "Domestic Landscapes" hat er in deutschen Privatwohnungen Interieurs aufgenommen, die sich zu wundersamen Landschaften fügen.

Fototapeten öffnen diese Zimmer in eine imaginierte Welt, darunter sind Natur- ebenso wie Stadtlandschaften. Wrede hat die Bildausschnitte seiner Hochformate so gewählt, dass die sich in diesen Räumen befindlichen Möbel und Gebrauchsgegenstände zu einem zugehörigen Teil der jeweiligen Sehnsuchtslandschaft werden. Ist die Möwe vor der Kulisse Manhattans Teil der Tapete oder handelt es sich um eine Figur, die wie ein Mobile von der Zimmerdecke baumelt? Das ist schwer zu entscheiden. Und diese Frage führt zum zweiten Teil des Buches "Die eine Ansicht".

Günther Kebeck hat einen großen Aufsatz verfasst, der von der Wahrnehmung des menschlichen Auges handelt und von dem, was eine Kamera im Unterschied dazu bildlich festhält. "Die hier vorgestellten Überlegungen", schreibt Kebeck, "helfen nicht bei der Interpretation eines Bildes, sie beschreiben vielmehr die Voraussetzungen." Am Ende dieses Textes weiß man, wie ein Auge funktioniert und warum eine Fotografie niemals die Realität abbildet.

Auch "erweist es sich für eine Fotografie als schwierig, zum Trompe-l'œil zu werden", argumentiert Kebeck, weil ihr ein Relief fehle, "jener Rest an Dreidimensionalität". Und weil sie Oberflächen mit unterschiedlichen Reflexionseigenschaften zeigt, selbst aber eine Oberfläche mit homogener Reflexion ist. Dennoch kommt Thomas Wrede, und das ist das Spannende an seinen Aufnahmen, einer perfekten Illusion sehr nahe.

Das Waschbecken scheint tatsächlich am Seeufer montiert zu sein, die Kissen scheinen auf einer Almwiese zu liegen. Andere Motive sehen aus, als wären sie auf einer Restaurant-Terrasse mit Blick auf die Brooklyn Bridge aufgenommen oder als stünde ein Schreibtisch direkt am Palmenstrand.

Wer nicht zu sehen ist auf Thomas Wredes Fotografien, sind die Bewohner dieser häuslichen Landschaften. Ihre Aufenthaltsorte bleiben der Fantasie des Betrachters überlassen.

Thomas Wrede, Günther Kebeck: Die eine Ansicht. Fotografische Bilder und ihre Wahrnehmung. Kehrer Verlag, Heidelberg 2017. 104 Seiten, 29,90 Euro.

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Quelle:
SZ vom 24.05.2017
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