Reisebuch:Die Spur der Gümmeler

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Dres Balmer: Reh am Rapsfeld oder eine Radreise rund um die Ostsee. Rotpunktverlag, Zürich 2019. 198 Seiten, 22 Euro.

Der Journalist Dres Balmer umrundet in 60 Tagen die Ostsee mit dem Rad. Die Fragen, die sich dabei ergeben, streifen die Wunder des Lebens und schwanken zwischen großen Gefühlen und kleinen Widrigkeiten.

Von Rebekka Gottl

Am Anfang vieler Reisen steht eine Frage. Manchmal ist sie sogar der Auslöser eines Abenteuers. Man zieht los und begibt sich auf die Suche nach einer Antwort. Bei Dres Balmer ist es anders: Er sucht Fragen.

Sie ergeben sich während der Reise, tauchen plötzlich auf und sind nicht mehr abzuschütteln. Sie streifen die Wunder und Rätsel des Lebens, schwanken zwischen großen Gefühlen und den kleinen Widrigkeiten. In Dänemark erforscht Balmer, was die lang anhaltende Helligkeit mit ihm macht. In der finnischen Stadt Lahti rätselt er, wie er sich verständigen soll. An der russischen Grenze glotzt ihn ein Rentier an - oder ist es ein Elch?

60 Tage und mehr als 6 000 Kilometer nimmt sich der Schweizer Journalist, um Fragen zu suchen. In dieser Zeit umrundet er die Ostsee. Mit dem Fahrrad - der Schweizer spricht vom Tourenvelo - geht es von Lübeck aus nach Norden. Er durchquert Dänemark, setzt nach Schweden über und radelt am nördlichsten Punkt des Rundwegs über die Grenze nach Finnland, macht einen Abstecher nach Russland und fährt durch die baltischen Staaten und Polen an der Küste entlang zurück nach Deutschland. "Um die irdisch-himmlische Unendlichkeit zu erfahren, muss man nicht nach Afrika oder in die Südsee reisen", schreibt Balmer in seinem Buch "Reh am Rapsfeld".

Nach Radtouren von Chicago nach Los Angeles auf der Route 66 und einer Umrundung des Schwarzen Meeres hat Balmer erneut die Satteltaschen gepackt und den Helm angezogen, um "eine andere Optik, ein anderes Raumerlebnis" zu erfahren. Im Gegensatz zur Fortbewegung mit dem Auto sei Radfahren ein Erlebnis an sich - intensiv, meditativ, aber auch vage und ungreifbar. Mal notizartig, mal in Ausschweifungen sinniert Balmer über die vorbeiziehende Landschaft.

Die Mahlzeiten sind wichtig. Sie sorgen für Abwechslung

Durch die bruchstückhaften Beschreibung entsteht ein Mosaik seiner Eindrücke. Beiläufig Wahrgenommenes verrät dabei oft mehr über die Regionen, die er durchfährt, als die eingefügten Schwarz-Weiß-Fotografien. Neben sporadischen Begegnungen mit Gümmelern, ambitionierten Rennradfahrern, sind es holprige Schotterpisten und am Straßenrand liegende, verdreckte Stirnbänder, die ihn zu fantastischen Gedankenspielen anregen. Der Kopf ruht nicht, er fragt, er verwirft, er erfindet. Dazu bewegen sich die Beine, und so radelt Balmer auf den meist wie mit dem Lineal gezogenen Straßen durch die Einsamkeit, in der "Landschaft und Himmel eins werden".

Letztlich ist es ein grundlegend menschliches Bedürfnis, das ihn aus der Isolation des Radfahrens befreit: Hunger. "Mein halbwegs öffentlicher Raum sind die Kneipen", schreibt Balmer. Außerhalb von Campingplätzen und Hotels komme man dort problemlos ins Gespräch. Die Mahlzeiten sind wichtig, werden ausführlich beschrieben und stellen eine Abwechslung im ritualisierten Tagesablauf dar. Kuppe um Kuppe radelt der Journalist durch die zeitlosen Wälder Schwedens und Finnlands, vom Meer ist nichts zu sehen. Es taucht erst wieder in Russland auf, gleichzeitig mit dem titelgebenden Reh. Seit Puttgarden scheint es den Radfahrer zu begleiten, ist hier und da in der Ferne zu sehen und hinterlässt stets ein Gefühl der Erleichterung. Festgehalten werden seine Eindrücke am Ende jedes Tages in einem Notizbuch. Je länger die Etappe und größer die Erschöpfung, desto kürzer der Eintrag.

Die Vermischung von Erlebtem und Gedachtem, das Ausloten und Überschreiten eigener Grenzen und die Ehrlichkeit der Fragen verleihen dem humorvollen Reisebericht eine kurzweilige Leichtigkeit. Velofahren ist etwas Sportliches, schreibt Balmer. "Doch Velofahren ist auch Nachdenken, Erinnern, und am Abend ist Velofahren Schreiben. Der Sport ist beim Velofahren bloß eine willkommene Nebenerscheinung."

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