Reisebuch:Den Tellerrand entlang

Lesezeit: 2 min

Cover von Paul Scraton: Am Rand. Um ganz Berlin. (Foto: N/A)

Paul Scraton umrundet in zehn Spaziergängen seine Wahlheimat Berlin. Rund 180 Kilometer war der 40-Jährige unterwegs, im Uhrzeigersinn. Ein Abenteuer im Grenzgebiet.

Von Stefan Fischer

Den Tellerrand habe er lange nicht im Blick gehabt, schreibt Paul Scraton in seinem Berlin-Buch "Am Rand". Als er vor 15 Jahren in die Stadt gezogen sei, habe er sich anfangs natürlich einen intensiven Eindruck von ihr verschafft, von den zentralen Vierteln - und habe sich dann über den Tellerrand hinaus orientiert ins Umland. Aber die Grenze selbst, all die "Orte, die nicht mehr ganz zur Stadt gehörten, aber auch noch nicht ländlich waren", hat der Engländer lange ignoriert.

Die Idee, Berlin an seiner Peripherie in zehn Spaziergängen zu umrunden, ist in ihm gereift angesichts der Brexit-Entwicklung. Scraton fühlt sich von seiner Heimat zunehmend ausgestoßen, als Europäer, als den er sich begreift. In der deutschen Hauptstadt sei er aber nur Wahl-Berliner. Das Gefühl, mehr über Berlin wissen zu müssen, um enger dazuzugehören, sei immer stärker geworden. Und so ist er im Spätwinter und Frühling des letzten Jahres jede Woche einmal mit öffentlichen Verkehrsmitteln an den Stadtrand gefahren und von dort zu Fuß losgelaufen. Jeder Spaziergang begann dort, wo der vorherige geendet hatte. Rund 180 Kilometer war der 40-Jährige insgesamt unterwegs, im Uhrzeigersinn rund um die Hauptstadt. Begonnen hat er an der Greenwichpromenade am Tegel-See; für einen Engländer ein naheliegender Gedanke, diese Promenade gewissermaßen als den Nullmeridian seiner Umrundung zu wählen, die immer wieder auch entlang der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze führt.

Stellenweise ist das kein Revier für Fußgänger: Die Peripherie ist die Zone der Ausfallstraßen und Autobahnkreuze, auch der Gefängnisse, Schrottplätze, Kläranlagen und Müllhalden. Ein Bezirk des "Ausrangierten und Weggeworfenen". Paul Scraton schreibt einmal vom Treibgut, das in den Außenbezirken strandet, und von dem nicht immer ganz klar ist, von welcher Seite es angeschwemmt wird. Einerseits. Andererseits befinden sich in den Randbezirken, vor allem im ehemaligen Ostteil der Stadt, sechs Großwohnsiedlungen, etwa Neu-Hohenschönhausen, Marzahn und die Gropiusstadt, in denen rund ein Zehntel aller Berliner leben. Und auch die Villensiedlungen am Griebnitzsee sowie der Wannsee, der in den Jahrzehnten der Teilung die einzige wirklich zugängliche ländliche Gegend für Westberliner war, die sie ohne Flugzeug, Eisenbahn oder eine Autofahrt über DDR-Transitstrecken erreichen konnten.

"Am Rand" ist ein Buch über sehr unterschiedliche Milieus und Soziotope, auch eines über die Geschichte der Stadterweiterungen. Ohne darüber selbst auszuufern. Scraton untersucht den Charakter der "Zwischenstädte", wie er sie nennt, die ohne Hoch- und Massenkultur auskommen, die aber keineswegs schon der umliegenden Provinz zugerechnet werden können. Er streift durch sogenannte Edgelands, verborgene Winkel, die vor allem Jugendliche für sich erobern und die es an der Peripherie häufiger gibt als im Zentrum - das ist von seiner Route oft viele Kilometer entfernt, manchmal nur eine Ahnung am Horizont. Aber das eine wäre ohne das andere nicht zu haben: Die Peripherie ist für sich genommen nicht eigenständig genug, beherbergt jedoch wesentliche Teile der städtischen Infrastruktur.

© SZ vom 04.06.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: