Reisebuch:Big Data für alle

Stefan Orth will wissen, wie Chinesen die Welt sehen. Er quartiert sich auf der Couch von Privatleuten ein, über die er ein differenziertes Bild des Landes gewinnt.

Von Stefan Fischer

Umgekehrt wäre die Irritation sicherlich ähnlich groß: Wenn also ein Asiate aus Erlebnissen im Pariser Disneyland ein Psychogramm der Europäer ableiten würde. Dennoch sind Rückschlüsse statthaft: Denn würde der Vergnügungspark nicht etwas in uns ansprechen, hätte er nicht viele Millionen Besucher im Jahr. Und so macht sich auch Stephan Orth nach einem Besuch des "Big-Data-Demonstrations-Parks" in der südchinesischen Stadt Guiyang grundsätzliche Gedanken: dass der Begriff Big Data mit Digitalisierung gleichgesetzt, also verharmlost und mit einem positiven Erlebnis verbunden wird, sei kein Zufall. Die Besucher tauchen in 3-D-Abenteuerwelten ein und rasen in Virtual-Reality-Fahrgeschäften durch Fantasielandschaften, in denen Actionfiguren eine Armee aus Cyborgwesen dirigieren.

Auf seiner mehrmonatigen Reise wolle er erfahren, "wie China sich seine Zukunft vorstellt, und ich finde mächtige Maschinengötter und auf Homogenität getrimmte Menschen", schreibt Orth in seinem Buch "Couchsurfing in China". Nun ist das bloß ein erster Eindruck, aber ähnliche Beobachtungen wird der Autor immer wieder machen, und zwar nicht nur als Metapher.

Es ist Orths dritter "Couchsurfing"- Band, nach denen über Iran und Russland. Orth kopiert aber nicht einfach ein erfolgreiches Konzept. Couchsurfing ist für ihn in Ländern mit kontrollwütigen Regimen das probateste Mittel, um mit neugierigen, eigenwilligen Einheimischen in Kontakt zu kommen, und das in geschützten Räumen. Wobei er in China nicht nur auf Skeptiker und Kritiker trifft, vielmehr etliche Menschen die Entwicklung ihrer Heimat positiv sehen.

Stephan Orth hat bewusster denn je keine Sehenswürdigkeiten bereist, die hat er bereits bei früheren Besuchen in China seit 2008 erkundet. Diesmal geht es ihm explizit darum zu begreifen, "wie Chinesen die Welt sehen". Davon wird in Zukunft einiges abhängen für die Welt. Kaum vorstellbar ist die Rasanz, mit der China sich verändert. "Jedes Mal kam mir das Land wie ein anderes vor", schreibt Orth: "Neue Hochhausviertel, neue Erfolgsfirmen, neue Technologien, neue Benimmregeln ... mehr Hightech, mehr Verbote ... mehr Wissen, aber auch mehr Fragen."

In China vollzieht sich ein epochaler Wandel, hin zum führenden Entwickler von Technologien. Das hat negative Auswirkungen ebenso wie positive. Staatspräsident Xi Jinping verwandelt China in einen Überwachungsstaat, wie die Welt noch keinen gesehen hat. Was Orth in Übereinstimmung mit vielen anderen westlichen Beobachtern über die Kontrolle der Bürger schreibt, ist erschreckend. Gleiches gilt für die Unterdrückung von Minderheiten, allen voran die zehn Millionen muslimischen Uiguren, von denen mutmaßlich mehrere Millionen in Umerziehungslagern inhaftiert sind. Sie zum Studieren schicken, nennen Han-Chinesen das zynisch.

Andererseits ist es womöglich China, das Umweltprobleme in den Griff kriegt. Während deutsche Bundesminister noch Feinstaub-Grenzwerte lächerlich zu machen versuchen und deutsche Ingenieure Zukunftstechnologien hinterherschrauben, fahren in der Zwölf-Millionen-Einwohner-Stadt Shenzhen bereits 16 000 E-Busse und 12 000 E-Taxen.

Mit pauschalen Urteilen wird man China nicht gerecht. So ist einer der kritischsten Menschen, die Stephan Orth kennenlernt, eine Polizistin. Und obwohl er sich nicht an die Visumsregeln hält, kann Orth unbehelligt das gesamte Land bereisen. Das relativiert - auch in seinen Augen - die Missstände nicht. Sich dennoch auf das Land und die Bewohner einzulassen, auch wenn sie ihn oft verstören, dafür wirbt Orth.

Stephan Orth: Couchsurfing in China. Durch die Wohnzimmer der neuen Supermacht. Malik Verlag, München 2019. 250 Seiten, 16 Euro.

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