Süddeutsche Zeitung

Reisebuch:Alles Atatürk

Die Fotografin Mine Dal zeigt, wie präsent der Begründer der modernen Türkei nach wie vor ist. Und porträtiert damit gleichzeitig den Alltag im Land.

Von Stefan Fischer

Er ist tatsächlich allgegenwärtig: Kemal Atatürk, Begründer der modernen Türkei, begegnet einem unentwegt in diesem Land. Die türkisch-schweizerische Fotografin Mine Dal hat in den vergangenen fünf Jahren Hunderte Aufnahmen gemacht, auf denen Bildnisse des 1938 gestorbenen Generals und Staatsmanns zu sehen sind. Ein besonders bezeichnendes: Gerahmt, als Stickbild, hängt ein Atatürk-Porträt an der Wand eines Optikerladens. Der Blick eindringlich, auf den Lippen ein sanftes Lächeln. Daneben, auf einem ähnlich großen Flachbildschirm, ähnlich ernsthaft: sein aktueller Nachfolger, Recep Tayyip Erdoğan, der, so ist es einer Einblendung zu entnehmen, gerade über seine Nahost-Politik spricht - und sich dabei auf Atatürk bezieht.

Die beiden sind durchaus Konkurrenten um die Gunst der Türken, jedenfalls sieht Erdoğan das so - und sich auf Augenhöhe mit Atatürk, mindestens. Atatürk ist ein Ehrenname, Vater der Türken bedeutet er. Eine Rolle, die Erdoğan sich ebenfalls zumisst. Die vielen Porträts von Kemal Atatürk können ihm insofern nicht gefallen. Denn es kann nur einen Landesvater geben, der über sein aktives politisches Wirken hinaus den Weg vorgibt, die Werte prägt.

Insofern ist der Bildband "Everybody's Atatürk" ein Mosaik, das sich zu einem Gesellschaftsporträt fügt. Die Besinnung auf Atatürk ist sehr wohl ein aktuelles Phänomen, so erklären es der Autor und politische Aktivist Zülfü Livaneli sowie der Journalist Altan Öymen in ihren englischsprachigen Begleittexten. Es ist keineswegs so, dass die meisten Atatürk-Bildnisse vor langer Zeit aufgehängt worden wären und eher aus Bequemlichkeit und Gewohnheit noch da sind denn aus Überzeugung. Sondern es gibt eine neue Welle, eine neue Generation, die sich mit den modernen, den säkularen Prinzipien Atatürks identifiziert - und das auch zur Schau stellt. Smartphone-Hüllen mit dem Konterfei des ehemaligen Staatspräsidenten werden verkauft, den metallenen Schriftzug seiner Signatur gibt es als Halskette, manche haben sich die Unterschrift auch tätowieren lassen. Nicht jeder Atatürk-Anhänger ist dabei automatisch ein Erdoğan-Gegner, und definitiv wird Atatürk auch verklärt. Seine Bildnisse - es sind die immer gleichen Motive - hängen aber auch ganz profan neben Plakaten mit Bikini-Schönheiten und Fußballhelden. Auf einem Foto beäugen sich Atatürk und der Schauspieler Heath Ledger in der Rolle des Joker. In jedem Fall sind Atatürks reformerische Ansätze tiefer verwurzelt in der türkischen Gesellschaft, als das von außen mitunter den Anschein haben mag.

Es geht in "Everybody's Atatürk" jedoch beileibe nicht nur - und eigentlich nicht einmal in der Hauptsache - um Politik, sondern um den Alltag im Land. Die Atatürk-Bildnisse, ob sie eine Fotografie nun zentral prägen oder ob man sie auf den Aufnahmen regelrecht suchen muss, sind immer Teil eines Ensembles. Mine Dal zeigt viele öffentliche Räume, auch einige private, und vor allem etliche Geschäfte. Oft handelt es sich um Stillleben, hin und wieder sind die Fotografien belebt mit Menschen. Entstanden sind die Aufnahmen im gesamten Land, durch die Fülle geben sie ein ziemlich gutes Bild ab davon, wie sich das öffentliche Leben abspielt in der Türkei. Wie kleinteilig der Einzelhandel ist. Wie viel weniger durchkommerzialisiert die Wirtschaft als in Westeuropa. Vor allem: wie heterogen das Land ist.

Mine Dal: Everbody's Atatürk. Edition Patrick Frey, Zürich 2020. 652 Seiten, 68 Euro.

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Quelle:
SZ vom 19.11.2020
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