Reisebildband:Das Buch der Karibik

Magnum-Fotograf Alex Webb macht sich auf die Suche nach der Identität einer äußerst vielfältigen Region.

Stefan Fischer

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(Foto: Alex Webb/Magnum/Ag. Focus)

Die Handlanger der spanischen Krone haben in der Karibik ein Vakuum hinterlassen, als ihnen Ende des 16. Jahrhunderts ihr Interesse an der Inselwelt abhanden kam. Nachdem Admiral Kolumbus im Januar 1494 an der Nordküste der heutigen Dominikanischen Republik einen ersten Landeplatz für die spanische Flotte befestigen ließ, benötigten die Konquistadoren nur ein paar Jahrzehnte, um die Einwohner der Karibik wenn schon nicht vollständig auszurotten, so doch einen Gutteil von ihnen hinwegzuraffen. Weshalb es in der Karibik bald nicht mehr genügend Arbeitskräfte gab, die es auszubeuten gegolten hätte. Mithin sanken die Erträge dieser Kolonien, und ohnehin erschienen die Edelmetallvorkommen auf dem mittel- und südamerikanischen Festland lukrativer als der Anbau von aus der Sicht der Europäer exotischen landwirtschaftlichen Erzeugnissen. Nicaragua

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(Foto: Alex Webb / Magnum)

In dieses Vakuum stießen die übrigen europäischen Seefahrernationen als die neuen Machthaber; und sie füllten auch das Reservoir an Arbeitskräften wieder auf mittels ihres perfiden Dreieckshandels: Tand für Westafrika, Sklaven für die Neue Welt, Reichtümer für das alte Europa. Die Niederlande und Frankreich waren derart gierig auf dieses Geschäft, dass sie große Territorien in Nordamerika an die Briten abtraten, um dafür im Tausch ein paar karibische Inseln zu bekommen. So ähnlich die Schicksale der einzelnen Inseln und späteren Staaten jedoch verlaufen sind - auch die vielfältigen Einmischungen der USA vom auslaufenden 19.Jahrhundert an sind eine gemeinsame Erfahrung -, die Karibik als einen einheitlichen Raum gibt es nicht. Puerto Rico

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(Foto: Alex Webb / Magnum)

Es gibt den immer noch irgendwie existierenden Sozialismus auf Kuba, es gibt radikal marktwirtschaftliche und daneben stark sozialdemokratisch geprägte Gesellschaften, es gibt Inseln, die sich mit dem Pauschaltourismus arrangiert haben, und es gibt Staaten wie Haiti und Jamaika, die aufgrund von Misswirtschaft und Drogenkriminalität in ihrer Funktionsfähigkeit existenziell bedroht sind. Von einer "vielgestaltigen Identitätsfindung" schreibt denn auch Karl Spurzem in seinem Vorwort zu Alex Webbs Fotografie- Band "Karibik". Eine Identitätsfindung, die von Fall zu Fall dann doch auf recht unterschiedlichen Einflüssen und Fundamenten basiert.

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(Foto: Alex Webb / Magnum)

Alex Webb, Mitglied der Fotoagentur Magnum, hat bereits zwei Fotobände veröffentlicht über einzelne karibische Inseln, einen über Haiti, einen über Kuba. Mit "Karibik" wagt er sich an ein Porträt der gesamten Region in ihrer Heterogenität. Selbst die Grenzen definiert Webb dabei eigenwillig - auch Aufnahmen aus dem festländischen Nicaragua sind in dem Band vertreten. Es sind Bilder des öffentlichen Lebens; wenige Aufnahmen nur sind in Innenräumen entstanden. In den Gassen und den Höfen, hin und wieder auch am Strand findet Alex Webb seine Karibik. Seine Bilder sind geprägt von satten Farben, selbst wenn sie mitunter fahl sind wie das verblichene Braun einer hölzernen Hütte oder das steingraue Grün einer Betonwand. Meistens funkeln sie aber, pastellen auf Curaçao, knallig gelb, rot und orange auf Kuba, nuancenreich blau in Puerto Rico. Der Tourismus und also die geschönte Wahrnehmung ist ausgeklammert, ein einziges Mal zeigt Webb ein Kreuzfahrtschiff und deutet damit diese Facette der Karibik an. Und auch die ganz großen, die außergewöhnlichen Katastrophen und deren Folgen wie das Erdbeben auf Haiti finden nicht statt in diesem Buch - weil sie nicht symptomatisch sind. Von den Mühen und auch von den Vergnügen des Alltags berichtet Webb stattdessen.

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(Foto: Alex Webb/Magnum/Ag. Focus)

Beides überhöht er auf eine dezente Weise, die Aufnahmen werden dadurch vielfach emblematisch, manche haben beinahe eine ikonographische Qualität. Und doch wohnt den meisten Fotografien etwas Beiläufiges inne. Viele sind oder wirken zumindest wie Momentaufnahmen. Immer sind Menschen auf den Bildern. Sie unterscheiden sich stark in ihrer Hautfarbe, in ihrer Art, sich zu kleiden, in ihrem Umgang miteinander. Man sieht sie arbeiten, man sieht sie spielen, tanzen, einander küssen. Viele der Beobachteten beobachten ihrerseits eine Szenerie, die die Kamera nicht einfängt. Erklärende Bildlegenden gibt es nicht in diesem Band, in dem es um Stimmung und Atmosphäre geht: Da vermögen Wörter ohnehin weniger als Fotos und als das Dutzend karibischer Lieder auf der beiliegenden CD. ALEX WEBB: Karibik. Mare Verlag, Hamburg 2010. 124 Seiten inklusive Musik-CD, 58 Euro.

© SZ vom 2.12.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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