Reise-Knigge: Interview:"Ich habe eine Flugbegleiterin zum Weinen gebracht"

Der Autor Philipp Tingler hat ein Buch über Benimm auf Reisen geschrieben. Doch warum fährt er selbst unterwegs so leicht aus der Haut?

Katja Schnitzler

Mit "Leichter Reisen" hat der Essayist, Reise-Kolumnist und Wahl-Züricher Philipp Tingler einen Ratgeber für unterwegs geschrieben, in dem er neben einigen praktischen Tipps ("Halbieren Sie beim Packen Ihr Gepäck - und dann legen Sie noch mal die Hälfte zurück in den Schrank!") vor allem Stilfragen erörtert. Dabei vertritt Tingler temperamentvoll auch extreme Positionen. Wir wollten wissen, warum der Autor - unter anderem von "ABC des guten Benehmens" - auf Reisen offenbar so leicht aus der Haut fährt.

sueddeutsche.de: Herr Tingler, muss man wirklich unehrlich sein, um leichter zu reisen?

Philipp Tingler: Man muss unehrlich sein, um überhaupt leichter durchs Leben zu kommen - natürlich muss man dabei auf die Gefühle anderer Rücksicht nehmen. Unter der Voraussetzung ist Lügen immer erlaubt, außer vor Gott, Gerichten und der großen Liebe, was manchmal dasselbe ist.

sueddeutsche.de: Sie machen uns neugierig. Was haben Sie denn Ihrer letzten Reisebekanntschaft über sich vorgeschwindelt?

Tingler: Es ist nicht so, dass ich automatisch lüge wie gedruckt, sobald ich mich unterhalte. Man sollte nur keine Scheu davor haben, im Zug oder Flugzeug sitzt man ja nicht im Beichtstuhl. Wenn mir da der Nachbar erzählt, er habe sich seine Jacke neu gekauft, sage ich was Nettes über diese Jacke, egal wie ich sie finde. Warum sollte ich auf den Gefühlen anderer herumtrampeln, nur weil ich sie nie wiedersehe?

sueddeutsche.de: Dennoch gewinnt man bei der Lektüre Ihres Buches den Eindruck, dass Sie zumindest in öffentlichen Verkehrsmitteln gut auf Bekanntschaften verzichten könnten.

Tingler: Manchmal schon. Es ist der Leitsatz meines Buches: Auf Reisen ist der persönliche Raum anderer physisch und psychisch zu respektieren! Also nutzen Sie nicht fremde Gepäckfächer und sitzen Sie nicht halb auf dem Schoß eines anderen, selbst wenn wenig Platz ist - gewöhnen Sie sich unterwegs ein leises Auftreten an, und zwar akustisch und auch tatsächlich.

sueddeutsche.de: Also doch keine Unterhaltungen über neue Jacken?

Tingler: Ich spreche nicht von einem Redeverbot. Aber ich warne vor Leuten, die ohne Rücksicht auf andere kommunizieren. Jeder sollte auf soziale Signale achten und diese auch beachten. Nichts ist schlimmer, als wenn man dauernd angesprochen wird, obwohl man am liebsten ausruhen möchte.

sueddeutsche.de: In diesem Fall sollte der Reisende einfach die Augen schließen?

Tingler: Und die Ohren verstopfen. Oder zur Lektüre greifen - wer gar nicht lesen will, kann ja immer auf dieselbe Seite starren.

sueddeutsche.de: Sie schlagen vor, die Klassentrennung in allen öffentlichen Verkehrsmitteln wieder einzuführen, so wie ...

Tingler: ... früher etwa bei der Bahn: erste Klasse, zweite Klasse, dritte Klasse. Ich gehöre zu den Menschen, die für mehr Raum immer bereit sind, Prämien zu zahlen. Menschen, denen das nicht so wichtig ist, können ja günstiger und beengter reisen.

sueddeutsche.de: Wenn Sie also nur die Wahl zwischen Economy und Daheimbleiben hätten, würden Sie gar nicht reisen?

Tingler: Im Laufe meines Lebens habe ich bestimmte Prinzipien für mich aufgestellt, dazu gehört: kein Langstreckenflug in Economy. Außer mein Ehemann wäre auf einem anderen Kontinent, er hätte sich das Bein gebrochen und ein Economy-Flug würde mich schnellstmöglich dorthin bringen. Aber in dieser Situation würde ich auch zu Fuß hinlaufen.

sueddeutsche.de: Manchmal sind Schweigen oder Ablenken die einzige Form der Höflichkeit, raten Sie in Ihrem Buch - und stellen einige Kapitel weiter das Anschreien von Bahnbeamten und Airline-Angestellten als willkommene Möglichkeit zum Aggressionsabbau dar. Wie verschrien sind Sie in der Reisebranche?

"Da hilft nur soziale Ächtung"

Tingler: Das ist eher eine Frage meines Temperamentes, daher bin ich im Zweifelsfall nicht nur in der Reisebranche, sondern überall verschrien. Ich wurde wohl nicht umsonst als betreuungsintensiv bezeichnet. Ich bin aber nicht so furchtbar kompliziert und kapriziös, wie sich das jetzt anhört!

Philipp Tingler leichter reisen

Philipp Tingler plädiert für mehr Raum beim Reisen - und zahlt dafür gerne etwas mehr.

(Foto: Stefan Sulzer)

sueddeutsche.de: Worüber regen Sie sich denn auf?

Tingler: Es ärgert mich in der Tat, wenn die einfachsten Sachen nicht funktionieren. Ich komme viel herum und kann also ganz gut vergleichen. Es ist faszinierend, wie unterschiedlich zum Beispiel der Begriff "Business Class" von verschiedenen Fluggesellschaften ausgelegt wird.

sueddeutsche.de: Und dann legen Sie los?

Tingler: Na ja, wenn niemand Kritik artikuliert, wie soll dann der Service je besser werden? Offiziell sind ja Kommentare von den Airlines gern gesehen, in der Praxis aber ist das bisweilen überhaupt nicht so. Ich habe mal auf einem Lufthansa-Flug eine Flugbegleiterin zum Weinen gebracht: Ich hatte ihr gesagt, man könne nicht in der Business Class dem Passagier eine zweite Weißbrotscheibe verweigern mit der Begründung, das Brot würde sonst vielleicht für den Rest der Kabine nicht mehr reichen. So was geht einfach nicht und wäre bei vielen anderen Fluggesellschaften undenkbar. Und, auch wenn ich mich jetzt wie ein Monster anhöre: Dann in die Bordküche zu gehen und in Tränen auszubrechen ist keine besonders professionelle Reaktion. Doch etwas anderes finde ich viel schlimmer ...

sueddeutsche.de: Was?

Tingler: Leute, die so tun, als ob das Flugzeug ihnen gehört. Schließlich ist man als Passagier auch Gast mit Benimmpflichten. Man sagt zum Beispiel "bitte" und "danke", und schon das schaffen viele Menschen nicht. Übrigens ist es auch für einen selbst unangenehm, wenn man sich zu Beginn des Fluges geärgert hat und dann noch 18 Stunden an Bord verbringen muss. Eine gute Taktik ist da Ironie, auch sich selbst gegenüber. Mit Ironie kann man zudem sehr offen sein, ohne schlimme Worte in den Mund zu nehmen. Man sagt einfach etwas wie: "Ihre Eltern sind bestimmt sehr stolz auf Sie."

sueddeutsche.de: Hilft Ironie auch weiter, wenn sich jemand in einer Warteschlange vordrängelt?

Tingler: Nee, dann hilft nur soziale Ächtung: auf denjenigen zeigen und laut rufen "Der hat sich vorgedrängelt!". Es ist ja erstaunlich, wer sich alles vordrängelt, im deutschsprachigen Raum zum Beispiel gerne ältere Herrschaften. Ich bin in der Tat überrascht, wie schlecht manchmal das Benehmen von Senioren ist, die vielleicht irgendwie denken, sie hätten Rücksicht nicht mehr nötig, weil alle jüngeren Menschen sowieso verroht wären, was natürlich Unfug ist. Überhaupt sind unbegründete Ansprüche eine der Grundlagen schlechten Benehmens.

sueddeutsche.de: Und wie reagieren die Zurechtgewiesenen?

Tingler: In der Regel konsterniert. Meist haben sie ja auch die ganze Warteschlange gegen sich, sobald jemand was gesagt hat.

sueddeutsche.de: Mit wem würden Sie denn auf keinen Fall verreisen?

Tingler: Die Liste ist endlos. Wahrscheinlich genauso lang wie die Zahl derer, die nie mit mir verreisen würden. Zu denen gehöre ich übrigens selbst.

Philipp Tingler wurde 1970 in Berlin geboren und lebt heute in Zürich. Der Autor beschäftigt sich nicht nur mit (Un-) Annehmlichkeiten auf Reisen, sondern studierte auch Wirtschaftswissenschaften und Philosophie. 2001 war Tingler für den Ingeborg-Bachmann-Preis nominiert, 2008 erhielt er den Kasseler Literaturpreis für Komische Literatur.

Sein neues Buch "Leichter Reisen - Benimmhandbuch und Ratgeber für unterwegs" mit Illustrationen von Daniel Müller ist 2011 bei Kein & Aber erschienen.

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