Ranthambore-Nationalpark in Indien:Katzenjammer

Tiger Ranthambore-Nationalpark Indien

Bingo! Ein Losverfahren bestimmt, in welchen Jeeps und Sektoren des Nationalparks die Besucher ausschwärmen dürfen. Außer Glück gehören Geduld und Ruhe zu den Faktoren, die eine Begegnung mit Tigern erleichtern.

(Foto: AFP)

Im Ranthambore-Nationalpark in Rajasthan haben Touristen die besten Chancen, einen Tiger in natürlicher Umgebung zu beobachten. Das bedeutet allerdings nicht, dass sie tatsächlich einen sehen. Eine Pirsch mit Hindernissen.

Von Stefan Nink

Die dunklen Gläser seiner Pilotenbrille reflektieren das Licht der Scheinwerfer, sein Lachen will die Zweifel vertreiben und den Missmut und die Müdigkeit, und als er zur Begrüßung die Hand hebt und sein klobiges Silberarmband kurz aufblitzt, da ahnt, ach was - da weiß man: Jetzt wird alles gut. Alles. Ganz bestimmt.

Das da vorne im offenen Mahindra-Jeep, der Mann in Boots und Hut, dieser Mann ist eine Legende. Einer, von dem die Angestellten an der Rezeption gerade eben noch geschwärmt haben, leise, raunend, beinahe verschwörerisch: Mit Jadvendra Singh fahren Sie, Sir? Mit DEM Jadvendra Singh? Dann müssen Sie sich keine Sorgen machen - niemand kennt Ranthambore besser, Sir! Oh, heute ist Ihr Glückstag! Und als ob Jadvendra Singh das alles gehört hätte, ruft er nun ein schallendes "Heute sehen wir Tiger!" zur Begrüßung in die Morgendämmerung. Und dann geht es los, Richtung Glückstag.

Für den wird es allmählich Zeit. Das hier ist meine sechste und letzte Expedition in den Ranthambore-Nationalpark, und bislang habe ich noch keinen Tiger gesehen. Keinen einzigen. Noch nicht einmal für einen winzigen Moment, noch nicht einmal aus weiter Ferne: keinen. Natürlich kann das passieren, selbst im weltweit besten Beobachtungsrevier. Auch bei sechs aufeinander folgenden Safaris. Auch, wenn die Wahrscheinlichkeit einer Sichtung bereits nach zwei Safaris bei angeblich 80 Prozent liegt. Kann passieren! Blöd ist nur, dass alle anderen Gäste welche gesehen haben. Alle. Jeder. Abends an der Bar holen Inder, Russen, Italiener und sehr viele deutsche Tierfreunde ihre Kameras und Handys hervor und zeigen ihre Beute.

Schlafende Tiger. Gähnende Tiger. Fressende Tiger. Tiger, Tiger, Tiger. So viele, dass man meinen könnte, es gebe in Ranthambore mehr Tiger als Wildschweine im Schwarzwald. Dabei sind es nur 52. In einem 400 Quadratkilometer großen Nationalpark. Aber Tiger sind Katzen und Katzen sind Streuner, morgens und abends gehen sie auf Pirsch. Essen suchen. Frauchen auftreiben. Revier kontrollieren. Die Ranger wissen, wo die Grenzen dieser Territorien verlaufen, und sie wissen das für jeden der 52 Tiger. Eigentlich müssten sie bloß an den Reviergrenzen parken und abwarten, bis einer vorbeikommt, aber wenn das alle machen würden, gäbe es Stau. Deswegen hat die Verwaltung den Park in sechs Sektoren unterteilt. Jeden Morgen lost ein Computerprogramm jedem Sektor eine bestimmte Anzahl Jeeps zu. Und den Jeeps werden dann wiederum Passagiere zugelost, die in den Lobbys ihrer Hotels warten.

Man glaubt gar nicht, wie bitterkalt es in Indien sein kann, wenn man mit 70 km/h in einem offenen Jeep in den Morgen brettert! Und wie staubig. Vor allem aber hat man keine Ahnung davon, welche unglaubliche Zahl an Schlaglöchern, Bodenrillen, zu schnell angefahrenen 90-Grad-Kurven und Vollbremsungen für Ziegen man auf 45 Minuten Anfahrt zum Park unterbringen kann. Als wir bei unserer ersten Safari ankamen, sahen wir aus wie ausgelaugte Söldner nach einem Nachteinsatz. Und fühlten uns wie Leute, die auf dem Oktoberfest auf nüchternen Magen vier Runden mit der Wilden Maus gefahren sind. Einer fragte, ob er kurz aussteigen dürfe. Er verschwand bleich hinter einem Baum. Es waren dann eindeutige Geräusche zu hören.

Aber dann! Die Tiger! Die Ranger! Der auf der ersten Safari hieß Raj, er trug ein Messingnamensschild an seinem Uniformhemd und war sich seiner Bedeutung als Wildhüter durchaus bewusst. Zur Einstimmung erzählte er uns von einem Arbeiter, der neulich gefressen worden sei, nur wenige Minuten von hier entfernt. Der Mann habe gebückt gearbeitet und den Tiger offenbar an ein grasendes Tier erinnert. Sich in so einer Gegend nach vorne zu beugen - das dürfe man nicht machen, meinte Raj. Der Passagier, der sich zwei Minuten zuvor wegen Rajs Fahrstil hinter dem Baum nach vorne gebeugt hatte, schaute fassungslos. Aber dann hielt unser Ranger den Zeigefinger auf die Lippen, und wir verstummten.

Schlafende Tiger, gähnende Tiger, fressende Tiger

Tiger entdeckt man nämlich mit den Ohren, das hatte Raj uns als erstes erklärt. Weil sich die Großkatzen sehr gut tarnen, muss man auf die Geräusche achten, die ein nahender Tiger auslöst. Das Hufgetrampel fliehender Antilopen. Aufgeregt tschilpende Vögel. Oder kreischende Affen. Wie jetzt gerade. Der Affe schien allerdings sehr weit weg zu sein, so etwa am anderen Ende des Parks. Der Tiger damit wahrscheinlich auch. Wir blieben trotzdem still sitzen. Eine Viertelstunde lang. Dann beschloss Raj: "No tiger." Wir fuhren weiter.

"No tiger" hätte es vor ein paar Jahren übrigens fast für den kompletten Park geheißen. In den Jahrzehnten nach 1973, als Indira Gandhi die Großkatzen unter Schutz gestellt hatte, war die indienweite Population allmählich von 1200 auf 3600 Tiere angewachsen. Als man die Tiger dann aber vor etwa zehn Jahren erneut zählte, kam man nur noch auf 1411. In einigen Schutzgebieten lebte kein einziger mehr, was aber offenbar niemandem aufgefallen war, und auch aus Ranthambore waren die meisten Tiger verschwunden. Dem indischen FBI gelang es, einen internationalen Händlerring auszuheben. Für die Tiger kam das zu spät, die waren in Tibet gelandet, wo ihre Felle in traditionelle Kostüme vernäht worden waren. Beziehungsweise auf dem chinesischen Schwarzmarkt, für 50.000 Dollar pro Fell. Vor allem in Ranthambore waren die Wilderer erfolgreich - nachdem sie heraus gefunden hatten, dass die Ranger ihre Unterkünfte aus Angst vor den Tigern niemals nach Einbruch der Dunkelheit verließen. Auch dann nicht, wenn 200 Meter entfernt Schüsse fielen.

"Aber das war früher!" Dip war der Ranger, mit dem ich Safari drei und vier unternommen hatte. Früher! Wie die Sender! Auch ewig her! Ich wollte wissen, welche Sender er meinte. Dip war jetzt irritiert, offenbar hatte er vermutet, dass sich das ebenfalls herumgesprochen hatte. Er erklärte, dass die Tiger in Ranthambore eine Zeitlang GPS-Halsbänder trugen. Das sei aber keine gute Idee gewesen, weil nun jeder VIP-Gast zu ihnen gekarrt wurde: hohe Beamte aus Delhi, die Sekretärinnen der hohen Beamten aus Delhi, die Cousins der Sekretärinnen der hohen Beamten aus Delhi. Nein, keine gute Idee, sagte er. Vor allem nicht, weil auch jeder halbwegs talentierte Wilderer das Signal mit den Positionskoordinaten abgreifen konnte. Wir standen übrigens, als er das erzählte, irgendwo im Park, mal wieder, saßen in unserem Mahindra und hörten den Vögeln zu. Sie klangen wie immer.

Meine Mitpassagiere waren tiefenentspannt, sie hatten tags zuvor Tiger gesehen, alle hatten das, in unterschiedlichen Jeeps in unterschiedlichen Sektoren. Ihre Fotos waren beeindruckend. Auf einigen waren die Tiger so nah, dass man ihre Zähne zählen konnte, während sie gähnten. Aber es gibt ja noch so viele andere Tiere hier! Dip unterbrach die Fotopräsentation. Er zeigte auf zwei Käfer, die im Sand neben dem Jeep Fangen spielten. Auf Spinnennetze, die wie missratene Makramee-Arbeiten in den Ästen über uns hingen.

Und da hinten! Eine Wanderbaumelster! Die Aufregung war groß, zumindest bei Dip. Die Wanderbaumelster sei der Zahnstocher des Tigers, schwärmte er, der Vogel picke ihm während dessen Mittagsschlaf Fleischreste aus dem Maul. Ob denn die Anwesenheit einer Wanderbaumelster darauf hinweise, dass ein Tiger in der Nähe sei, wollte jemand wissen. Aber nein, sagte Dip, im Gegenteil! Außerhalb ihrer Zahnstochereinsatzzeiten hielten sich die Vögel so weit wie irgend möglich von den Tigern fern. "Das machen alle Tiere so." Ich beschloss, abends an der Hotelbar von der Wanderbaumelster zu berichten. Man würde mir gebannt zuhören, das war mal sicher.

Bei der nächsten Safari war der Ranger nicht zu verstehen. Noch nicht einmal seine Begrüßung. "Ich verstehe leider kein Hindi", entschuldigte ich mich. "Aber ich habe doch Englisch gesprochen", antwortete er empört. Anschließend war er dann beleidigt und sagte drei Stunden lang nichts mehr bis auf "maybe tiger" und - irgendwann darauf - "no tiger!". Safari Nummer Fünf war übrigens auch die, bei der die Zulosungs-Software offenbar fehlerhaft arbeitete, in unserem Sektor wurde es jedenfalls plötzlich voll. Innerhalb weniger Minuten kamen uns neun andere Jeeps entgegen, in denen selige Passagiere in einer Art postkoitalem Zustand saßen: Drei Tiger! Mutter mit Jungen! Beim Spielen!

Nah auf die Pelle rücken

Die Ranger der Jeeps mussten meinem Ranger dann erst einmal erzählen, wie toll das war. Ihre Jeeps umzingelten unseren Jeep, und ich durfte Videos mit der Spielgruppe anschauen. Unter anderem von einem fünfjährigen Jungen, der mit seinem Material wahrscheinlich demnächst zu den Filmfestspielen in Cannes anreisen wird. Als die Ranger fertig getratscht hatten, fuhren wir zum Wasserloch mit den drei Tigern. Die natürlich längst weg waren.

Der faszinierendste Teil des Nationalparks ist übrigens das Hochplateau. Von hier kann man sehen, wie sehr Indien, dieses übervolle und überbordende Indien, den Tigern auf die Pelle gerückt ist. Etwa 100.000 Menschen leben in der Nachbarschaft des Schutzgebiets, und wo keine Dörfer sind, sind Felder und Äcker, die diese Menschen ernähren, bis an die Zufahrt zum Park reichen sie. Es wird eng für Indiens Tiger. Experten glauben, dass am Ende landesweit maximal 500 bis 700 Tiere leben und überleben könnten. Wenn die Nationalparks komplett abgeriegelt werden. Und mindestens tausend motivierte und gut ausgerüstete Männer sie bewachen.

Tiger! Und dann auch noch T-24!

Männer wie Jadvendra Singh zum Beispiel. Der mit der Pilotenbrille. Der mit dem Lachen. Der mit dem Armband, der jetzt, bei meiner letzten Safari, auf dem Beifahrersitz thront: ein Kenner, ein Experte, eine Legende, seit mehr als 20 Jahren den gestreiften Großkatzen auf der Spur. "Heute sehen wir Tiger!" Und warum? Weil unser Jeep jenem Sektor zugelost wurde, in dem Tiger T-24 zu Hause ist. T-24! Er strahlt. T-24, sagt er, sei jener Tiger, den man sieht, wenn man nach "Tiger Ranthambore Nationalpark" googelt: der größte, der stolzeste, der mächtigste Tiger im Park, der König der Tiger sozusagen. Und wir würden ihn treffen!

Eine Stunde später stehen wir an einem kleinen See. Jadvendra dreht sich zu uns um auf seinem Beifahrersitz, nachdem er das Ufer mit dem Fernrohr inspiziert hat, und jetzt erzählt er. Von den Tigern. Und den Tigern. Und den Tigern. Je länger er erzählt, desto lauter wird er, ich bin mir sicher, dass man uns bis zum Kassenhäuschen hören kann. Oh, das störe T-24 nicht, sagt Jadvendra, als ich ihn darauf aufmerksam mache, der nehme das gar nicht wahr. Wie zum Beweis für diese These passiert nichts. Eine Viertelstunde. Eine halbe Stunde. Eine ganze Stunde. Das Funkgerät knackt.

Jadvendra spricht mit seinen Rangerkollegen. Dann dreht er sich um und erklärt, dass T-24 im Nachbarsektor gesichtet worden sei. Ganz ungewöhnlich sei das, normalerweise halte er sich dort nie auf. Er sieht auf die Uhr. Wir fahren zurück ins Hotel. Und ich weiter zum Flughafen.

Dass ich dann doch noch einen Tiger gesehen habe, verdanke ich der Airline. An Bord lief auf dem Rückflug nämlich "Life of Pi". Das ist dieser Film über den schiffbrüchigen Jungen, der sich das Rettungsboot mit einer ganz besonderen Raubkatze teilt. Sind schon wunderschöne Tiere, die Tiger.

SZ-Grafik Ranthambore-Nationalpark Indien Rajasthan
(Foto: SZ Grafik)

Informationen

Anreise: Flug mit Etihad Airways von München über Abu Dhabi nach Delhi und zurück ab 700 Euro, www.etihad.com

Reisearrangement: Der Ranthambore-Nationalpark liegt ca. 150 Kilometer von Jaipur entfernt im indischen Bundesstaat Rajasthan. Der Veranstalter Lotus Travel bietet eine dreitägige Tour in den Park ab Jaipur bis Agra an, ab 248 Euro pro Person, die mit allen Rajasthan-Rundreisen des Veranstalters kombiniert werden kann, z.B. mit der Rundreise "Exkursion ins Reich der Rajputen" (9 Tage ab 679 Euro pro Person), Buchungen über www.lotus-travel.com

Weitere Auskünfte: Die Website des Nationalparks im Internet: www.ranthamborenationalpark.com, www.india-tourism.de

Hinweis der Redaktion: Die Recherchereisen für diese Ausgabe wurden zum Teil unterstützt von Veranstaltern, Hotels, Fluglinien und/oder Tourismus-Agenturen.

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