Süddeutsche Zeitung

Radfahren:Die bunte Pest auf Mallorca

Lesezeit: 5 Min.

"Heuschrecken" nennen Einheimische spöttisch Rennradler, die jedes Frühjahr auf der Insel einfallen. Trotzdem gibt es im hügeligen Hinterland noch Strecken, die man fast für sich allein hat.

Von Sebastian Herrmann

Wenn die Mandeln auf Mallorca blühen, erwacht die Insel aus dem Winterschlaf. In die Wiesen an der gebirgigen Westküste der Mittelmeerinsel sind gelbe Blumen getupft, in den Olivenhainen und Orangengärten verbrennen Bauern Grünschnitt. Die Obstbäume öffnen ihre Knospen, und schließlich setzt die Heuschreckensaison ein. In stetig wachsender Zahl surren sie über die Insel, blockieren Straßen, fallen in Tankstellen ein, fressen Cafés leer und geben ein ästhetisch fragwürdiges Bild ab. Einzelne Individuen bewegen sich beinahe das ganze Jahr über auf der Insel, doch erst im frühen März rotten sie sich zu Schwärmen zusammen und werden an manchen Orten zur Plage. Seinen Höhepunkt erlebt das Schauspiel von April bis Mitte Mai, danach wird es so heiß, dass die Schwärme wieder verschwinden.

Heuschrecken, so bezeichnen Einheimische spöttisch die vielen Radfahrer, die im Frühjahr nach Mallorca reisen, um dort zu trainieren, ihrer Form bei 25 Grad und Sonnenschein den ersten Schliff zu verpassen und sich auf die Abenteuer vorzubereiten, die sie für ihre Radsaison planen. Und es kursiert eine zweite Schmähung für die Touristen in Funktionswäsche, die mit gepolstertem Hintern über Mallorca rollen: die bunte Pest.

Bis zu 300.000 Radfahrer kommen im Jahr auf die Insel

"Man kann es den Einheimischen manchmal nicht verdenken", sagt Harald Sandner, Besitzer der Firma Rad International, die - um im Bild zu blieben - ein Heuschreckennest in Peguera im Südwesten der Insel betreibt, wo sie Räder verleiht und geführte Touren anbietet. Das Unternehmen hat der 46-Jährige 2010 übernommen, zuvor hat er als Ingenieur in der Autoindustrie gearbeitet, ist nebenher privat Rad gefahren und hat Rennen wie das Mallorca 312 gewonnen, das einmal um die Insel führt. Bis zu 300 000 Radfahrer besuchen Mallorca jährlich, die meisten von ihnen rollen im Frühjahr über die Straßen.

Wie viele es exakt sind? "Das ist ein bisschen das Geheimnis der Anbieter", sagt Francisco Colom, der im Fremdenverkehrsamt von Calvià im Südwesten Mallorcas für Sporttourismus zuständig ist. Die Firmen veröffentlichen keine exakten Zahlen, doch klar ist: Die bunte Pest weitet sich aus, jede Saison fliegen mehr Radfahrer auf die Insel, um zu trainieren oder einen frühen Aktivurlaub zu machen.

Als die ersten Radtouristen in den 1980er-Jahren auf die Insel kamen, brachten sie ihre Räder noch selbst mit. Heute arbeiten ungefähr 25 Radtouristikanbieter auf Mallorca, ihr Fuhrpark beläuft sich auf etwa 20 000 Mieträder. Die Bedingungen für sportliche Radler sind auf Mallorca derart gut, dass die Masseninvasion der Funktionswäscheträger sich absolut nachvollziehen lässt. Seltsam ist allenfalls, dass alle auf einmal im April und Mai auf der Insel auftauchen. Zu dieser Jahreszeit ließe sich schließlich auch schon in Deutschland oder anderswo trainieren - und etwas früher im Jahr ist es auf Mallorca doch noch deutlich ruhiger und entspannter.

"Achtung, jetzt wird es schön", kündigt Hans Schweitl an, der als Guide für Rad International Rennradtouristen durch Mallorca führt. Der Österreicher, Anfang 40, Dreadlocks, lautes Lachen, starke Waden, führt die Gruppe an diesem Morgen im März ins Hinterland von Peguera. Nach einem kurzen Stopp an einem Hotel ist das Fahrradrudel komplett. Das touristisch übererschlossene Gebiet an der Küste ist rasch verlassen, die Gruppe rollt ins hügelige Hinterland, das der stets fröhliche Hans - unter Radlern duzt man sich - etwas zu enthusiastisch ankündigt: Hier also wird es schön. Pinien, Hügel, Zwergpalmen, die allgegenwärtigen Ziegen neben der Straße und kaum andere Radler unterwegs.

Was ist los, fällt die Heuschreckensaison in diesem Jahr aus? Keinesfalls, doch die meisten Rennradler, die gut 80 Prozent der Radtouristen ausmachen, buchen anderswo auf der Insel ihre Unterkunft. Das Zentrum des Radtourismus liegt in der Gegend um Alcúdia im Norden der Insel. An der breiten Straße entlang der Küste befinden sich Radstationen der Firma Hürzeler, der Radtouristik-Platzhirsch auf Mallorca. Hunderte Rennräder stehen darin jeweils bereit, und auf der Straße davor begegnen einem so viele Gruppen, dass der sonst obligatorische Radlergruß eingestellt wird: Man bekäme die Hände nicht mehr an den Lenker.

"Die wollen alle Kilometer fressen, und hier können sie die flachen Strecken im Osten der Insel schneller ansteuern", sagt Harald Sandner. Rennradfahrer, das muss an dieser Stelle gesagt werden, sind manchmal auch ein wenig eigenartige Typen. Sobald der Sport mit etwas Ehrgeiz betrieben wird, kommen bei vielen Trainingspläne ins Spiel und diese sehen, arg vereinfacht, für das Frühjahr vor allem Fahrten im Flachen vor. Berge meiden viele hingegen, wenn sie noch an ihrer Frühform arbeiten. Die meisten Radlrudel in Alcúdia streben an diesem Morgen auch Richtung Osten, wo es weniger hüglig ist. Richtung Westen führt die Straße über Port de Pollença zum Cap Formentor, wie der nördlichste Zipfel der Insel heißt.

Bergauf, bergab, spektakuläre Aussichten, schroffe Klippen, nackter Fels, blaues Meer. Obwohl die Masse der Radler in die andere Himmelsrichtung gefahren ist, rollen hier noch immer reichlich Menschen in bunten Trikots über den Asphalt und liefern sich an den Anstiegen kleine Wettkämpfe. Die überaus meisten Radtouristen sind Männer - und die meisten von ihnen mögen es nicht so gerne, wenn sie bergauf überholt werden. Wie es hier zur Hauptsaison ab Mitte April aussieht? "Dann sind hier zehnmal so viele Rennradler unterwegs", sagt Sandner.

Ernährung? Paella und Bier. Trainingsplan? Ach komm, wir sind die Radpiraten

Aber nicht jeder, der auf zwei dünnen Rädern über den Asphalt zischt, unterwirft sich dem Diktat eines Trainingsplans. In Peguera treffen sich regelmäßig Radsportler des FC St. Pauli und mühen sich nach Kräften, allen Vereinsklischees gerecht zu werden. Abends wird Bier getrunken, Fußball geschaut, durcheinander geredet, mit Zigarillo in der Hand von bestandenen Fahrradabenteuern erzählt und dabei überlegt, ob die Runde morgen gemütliche 100 oder doch 200 Kilometer lang sein soll. Ernährungsplan? Paella und Bier! Trainingsplan? Ach komm, wir sind die Radpiraten!

Am nächsten Morgen rollt die St.-Pauli-Gruppe von Peguera aus in die Hügel im Hinterland. Die Gruppe mit anfangs 18 Radlern bewegt sich in Zweierreihen, das Tempo liegt in Regionen, in denen entspannte Unterhaltungen möglich sind. Die Mandelbäume blühen, die gelbe Blumen zeigen sich und gelegentlich hupt ein Autofahrer, weil er auf den engen Straßen nur schwer an dem Pulk vorbei kommt.

Die Begegnungen lassen erahnen, warum Radler manchen Mallorquinern auf die Nerven gehen - auch wenn sie zu einem wesentlichen Wirtschaftsfaktor geworden sind. Die Funktionswäscheträger füllen quasi eine Buchungslücke. "Ein Radtourist gibt etwa 30 Prozent mehr aus als ein normaler Reisender", sagt Francisco Colom vom Fremdenverkehrsamt. Die bunte Pest, für die Tourismusbranche handelt es sich mehr um einen bunten Segen, der die Nebensaison versüßt.

Wer den großen Rennradtrubel meiden will, ist im bergigen Südwesten gut aufgehoben. Die Autobahn von Palma nach Westen bindet den Verkehr, so dass auf den Nebenstraßen meist wenige Autos unterwegs sind, und das hügelige Terrain schreckt manche Radler ab. Ihnen entgehen grandiose Routen, der Anstieg zum Dorf Galilea, dessen Kurven sich durch Wälder schlängeln und dessen Steigung im Vergleich zu vielen Alpenpässen mild ist. Weiter geht es über den Coll des Grau, und schon befinden sich die Klassikerrouten in Reichweite: an der Küste entlang über Deià nach Soller, weiter über den Coll de Puig Major, dem mit 870 Metern über dem Meeresspiegel höchsten Pass der Insel; und schließlich zu einer der wohl spektakulärsten Bergstraßen, die sich mit dem Rennrad befahren lassen: das sich schlängelnde Asphaltband hinunter nach Port de Sa Calobra. Hier surren auch schon Anfang März sehr viele bunte Heuschrecken über die Straße. Aber egal, diese süßen Serpentinen durch die Felsen am Mittelmeer bescheren dem Rennradfahrer solche Glücksgefühle, dass er seine zahlreichen Artgenossen entrückt angrinst. Auch als Heuschrecke lässt es sich gut leben.

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SZ vom 30.03.2017
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