Radeln an der Sellaronda:Intelligenz des Schwarms

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Überholen und überholt werden: Bei der Massenfahrt um das Sellamassiv sollte man immer auf den Nebenmann achten. (Foto: Freddy Planinschek/Gröden Marketing)

Zwei Mal im Jahr wird die Straße rund um den Sellastock für den Autoverkehr gesperrt. Zigtausende Hobbyradler fahren dann über die vier Pässe in den Dolomiten - wie Ameisenwesen in Funktionsunterwäsche. Vom Reiz einer Massenveranstaltung.

Von Sebastian Herrmann

Die Zeit ist reif, um über Insekten zu sprechen. Und von sozialen Kerbtieren zu erzählen - von Krabblern und Kriechern, die sich in teils gigantisch großen Gruppen organisieren und dabei offenbar niemals den Überblick verlieren. Klar, auf den ersten flüchtigen Blick wirkt eine Ameisenstraße chaotisch. Doch nach etwas Beobachtung ordnet sich das Durcheinander. Die Tiere finden aneinander vorbei. Alle kennen die Richtung, das Ziel, zu dem Futter oder Baumaterial geschleppt werden sollen. Nur wenn sich eine einzelne Ameise gegen den Strom der Artgenossen kämpft, sieht das nach Plackerei aus - sonst zeigt sich da ein Wunder scheinbar müheloser Ordnung.

Wie machen die Tiere das, wie marschieren sie unfallfrei aneinander vorbei? Oder wie gelingt es einem Mückenschwarm, so schön besoffen in der Dämmerung zu taumeln, ohne dass die einzelnen Individuen ständig zusammenstoßen? Und was ist das Geheimnis großer Vogelschwärme aus Abertausenden Tieren, die wie eine Gewitterwolke am Himmel kreisen und doch unfallfrei bleiben?

Eine grobe Antwort auf diese Fragen kommt aus einer Lebenswelt, die vordergründig so gar nichts mit Insekten und anderen Viechern zu schaffen hat: dem organisierten Massenradeln in den Bergen. Zwei Mal im Jahr - im Frühsommer und nun wieder am Samstag, 15. September - wuselt und wimmelt nämlich ein gigantischer Schwarm von Fahrradfahrern durch die Dolomiten. Bei diesen sogenannten Sellaronda Bike Days sind die Passstraßen rund um den Sellastock für den motorisierten Verkehr gesperrt. Wo sonst Autos fahren, Wohnmobile und Busse zu den Passhöhen gondeln und Motorräder wie Presslufthämmer auf zwei Rädern durch das Alpenpanorama lärmen, zieht sich eine gut 60 Kilometer lange Ameisenstraße aus Radfahrern durch die Landschaft. Mehr als 20.000 Radler versuchen sich an den vier Pässen rund um das Gebirgsmassiv in den Dolomiten mit dem 3152 Meter hohen Piz Boè als Hauptgipfel.

Im Gewimmel der Rennräder, Mountainbikes und wenigen Trekkingräder tauchen die gleichen Fragen auf wie bei der Beobachtung von Ameisenstraßen oder Vogelschwärmen: Wie gelingt es den einzelnen Individuen inmitten des unübersichtlich bunten Radl-Rudels unfallfrei zwischen den anderen hindurchzusteuern?

Der Schwarm erwacht am frühen Morgen. Die Straßensperre für Autos, Busse und Motorräder gilt von 8.30 Uhr an. Ein guter Ort, um in die Umrundung des Sellamassivs einzusteigen, ist Wolkenstein am Ende des Grödnertals - ein Touristenbettenort, der sich im Sommer mehr und mehr auf den Besuch von Fahrradreisenden einstellt. In der Morgensonne verdichten sich auf der Hauptstraße die einzelnen Radler zunehmend zu Gruppen, zu Rudeln, zu einem großen Schwarm, je näher sie in Richtung der eigentlichen Sellaronda rollen. Wer auf dem Bürgersteig neben der Straße steht und die Augen schließt, erlebt schon am Morgen zu Beginn einen Insektenschwarm-Moment: Der motorisierte Verkehr schweigt, dafür klingt das Sirren und Schnarren des Freilaufs der Rennräder wie das Sammelsignal seltsamer Fluginsekten.

Sella Ronda per Mountainbike
:Eine runde Sache

3000 Höhenmeter in zwei Tagen: Auf der Tour um den Sella-Stock ist es nur mit Radfahren nicht getan.

Der Einstieg in die eigentliche Umrundung des Sellastocks befindet sich ein paar Kilometer und wenige hundert Höhen- meter südöstlich von Wolkenstein am Plan de Gralba. Die Strecke um die senkrechten Felswände des Sellamassivs bringt es auf eine Distanz von 58 Kilometern bei 1780 Höhenmetern. Für völlig untrainierte Radler könnte die Bewältigung der Strecke eine Nummer zu groß sein - aber das kümmert nicht. Geht die Puste aus und die Schmerzen in den Beinen entpuppen sich als Großbrand, kann die Tour an jedem Ort auf der Strecke beendet werden, die Veranstalter bieten nach 15.30 Uhr, wenn die Pässe wieder für Autos öffnen, einen kostenlosen Shuttledienst.

So wie jede Ameisenstraße ein Ziel kennt, so bewegt sich auch der Strom aus Zweirädern in eine Richtung. Das Sellamassiv sollte gegen den Uhrzeigersinn umrundet werden. Und wer die wenigen Teilnehmer beobachtet, die aus welchen Gründen auch immer, ganz am linken Straßenrand entgegen der Fahrtrichtung des Hauptschwarms rollen, hält die vorgegebene Fahrtrichtung sofort für eine gute Sache. Schon so entpuppt sich die Fahrt in der Masse der Funktionswäscheträger als Herausforderung. Die Individuen verhalten sich zwar wie Vögel in einem Schwarm oder die Verkehrsteilnehmer einer Ameisenstraße: Es reicht, wenn jeder auf seine ein, zwei Nebenleute achtet, dann organisiert sich das Radl-Gewimmel. Aber auch das fordert große Konzentration und nimmt den Schmerzen am Berg ein wenig von ihrem köstlichen Geschmack.

Steigungen ziehen Radfahrer aus seltsamen Gründen so stark an wie süßes Gebäck Wespen im Spätsommer. Wer ein Rennrad besitzt und die ersten paar Tausend Kilometer in die Beine gekurbelt hat, träumt von Touren auf den Mont Ventoux in der Provence oder den 48 umbarmherzigen Kehren am Stilfser Joch. Wer Mountainbike fährt, überquert irgendwann die Alpen und beschwert sich darüber, dass die Berge bald von Radlern überrollt werden, wenn das so weitergeht. Das innere Ritual der Fahrten auf einen Pass ähnelt sich stets. Die ersten Höhenmeter schmerzen besonders, und immer wieder hofft und prüft man, ob es nicht doch noch einen leichteren Gang gibt (natürlich nicht!), bis irgendwann ein Zustand angenehmer Resignation erreicht ist: nur noch kurbeln, alles andere ist egal.

Bildband "Dolomites - Visual Dualism"
:Schwarz und weiß, monumental und winzig

Die Outdoor-Fotografie ist gefangen im Strudel des Spektakulären. Peter Mathis hat sich daraus befreit - und die Dolomiten aus einer ganz besonderen Perspektive eingefangen.

Von Birgit Lutz

Bei den Sellaronda Bike Days stellt sich dieser tranceartige Zustand etwas schwerer ein. Das liegt am Erfolg der Veranstaltung: Die Teilnehmerzahl hat sich längst mehr als verdoppelt, seit im Jahr 2006 dieser Volksradltag zum ersten Mal stattgefunden hat. Bei der Auffahrt zum Sellajoch - der erste Pass von Wolkenstein aus - zeigen sich die Konsequenzen. Der Schwarm besteht vor allem aus Rennradlern, viele im werbebedruckten Outfit ihrer Vereine, einigen Mountainbikern und nur ganz wenigen Exoten (Radler, die ihre schlafenden Zweijährigen im Kindersitz den Berg hinaufkeuchen). Bergauf variiert jedoch das Tempo der einzelnen Fahrer. Man überholt, man wird überholt und so geht der Blick für den Langkofel und die erhabene Dolomitenkulisse etwas verloren. Wer nicht auf den Nebenmann achtet, stürzt - obwohl die Bike Days kein Rennen sind und keine Zeit genommen wird. Auf den Abfahrten vom Sellajoch, dem Pordoijoch, dem Campolongo Pass und dem Grödner Joch entzerrt sich das Rudel auf angenehme Weise.

Die letzte Auffahrt der Runde mit Startpunkt Wolkenstein beginnt in Corvara. Die Straße bis zum Grödner Joch schmiegt sich in vielen, weit sichtbaren Kehren in den Hang. Darauf bewegt sich das kilometerlange Band aus Hobbyradlern, das sich nirgendwo so deutlich zeigt wie hier. Lauter Ameisenwesen in Funktionswäsche, die sich auf geheime Weise organisieren, alle den Weg kennen und einem Ziel entgegenstreben: Oben ankommen, stolz sein und dabei als Zweirad-Insekt im Schwarm aufgehen.

Dass sich Ameisen auch an Duftstoffen orientieren, das soll in diesem sportlichen Kontext nicht weiter diskutiert werden. Das hat mit Radeln nichts zu tun. Wirklich nicht.

Informationen

Südtirol Karte Dolomiten Sellaronda Südtirol Karte Dolomiten Sellaronda (Foto: SZ Grafik)

Anreise: Mit dem Auto von München über Innsbruck und den Brenner. Kurz nach Brixen bei Klausen von der Autobahn abfahren und Richtung Grödnertal bis Wolkenstein. In die Sellaronda kann aber auch von Corvara, Canazei oder Arraba aus gestartet werden. Mit dem Zug bestehen Verbindungen bis Bozen oder Brixen. Von dort fährt ein Linienbus nach Gröden.

Unterkunft: Zum Beispiel Hotel Oswald, Via Meisules Str. 140, I-39048 Wolkenstein, DZ ab 85 Euro, Tel.: 0039/0471/79 51 51, www.hoteloswald.com. Weitere Hotels finden sich auf der Webseite des Tourismusverbands unter www.valgardena.it/de

Die Tour: Anmeldung ist nicht nötig, die Teilnahme ist kostenlos, www.sellarondabikeday.com

© SZ vom 05.09.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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