Portugal:Bloß keine traurigen Wände mehr
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Lissabon ist für seine urbane Kunst weltbekannt - im Herzen von Portugal war davon bislang wenig zu spüren. Doch nun wird auch dort Streetart gefeiert, auf ganz eigene Weise.
Von Lea Weinmann
Das Schaf hat drei Köpfe, der Schäfer hat es über seine Schulter gelegt. Ein Wollknäuel sitzt da, wo man den Kopf des Mannes vermuten würde, darunter kommt sein Gerippe zum Vorschein. Das Bild nimmt die gesamte marode Fassade ein: Seine weiß-, türkis- und gletscherblauen Farben verdecken Fenster und Türen, Stromleitungen, verdreckten und bröckelnden Putz.
Anfang und Ende liegen in diesem Kunstwerk im Herzen der Altstadt von Covilhã dicht beieinander. Einerseits hat hier alles begonnen; die gesamte Streetart-Bewegung im Zentrum Portugals hatte in diesem Bild des Künstlerkollektivs ARM Collective ihren Ursprung. Andererseits symbolisiert das Kunstwerk den Niedergang der Wollindustrie Covilhãs: Von der einstigen Textilhochburg des Landes und dem ehemals exklusiven Stofflieferanten für das Königshaus ist nur noch ein skelettierter Schäfer mit Wollknäuel-Kopf übrig.
Webstuhl in digitaler Anmutung: Graffito auf einem Haus in Estarreja.
Die traditionellen Azulejos-Kacheln bröckeln von immer mehr Fassaden, weshalb sie ein Künstler einfach hinmalt.
Der seltene Purpurreiher auf einer Fassade in Estarreja.
Überlebensgroß: Eine traditionelle Bewohnerin in einem portugiesischen Haushalt.
Klassisch trifft modern: Azulejos und Graffiti ergänzen sich gut in Figueira da Foz.
"Leben für Leben" heißt das Werk an einer Fassade in Covilhã, das ans Gebäude der örtlichen Feuerwehr gesprayt wurde.
Das Gesicht gehört einem stadtbekannten ehemaligen Textilarbeiter in Covilhã.
Die immer wiederkehrenden Schwalben gehören zu vielen portugiesischen Städten mit ihren alten Häusern, wo sie noch genug Nistmöglichkeiten vorfinden.
"Wild Orphan", Wilde Waise heißt das BIld in Covilhã, das nach einem Gedicht von Allen Ginsberg benannt ist.
Lara Seixo Rodrigues hat eine ganz besondere Beziehung zu diesem Kunstwerk. Hunderte Streetart-Werke hat die Portugiesin schon im Entstehungsprozess begleitet. "Der Schäfer und sein Wollschaf waren mein allererstes Projekt, daheim in meinem Geburtsort", so Rodrigues, die 40 Jahre alt ist, aber jünger aussieht. Zu dritt haben sie - Rodrigues, ihr Bruder und ihre Schwägerin - 2011 mit "WOOL" das erste Streetart-Festival Covilhãs und des ganzen Landes organisiert. Nationale und internationale Künstler kamen in die Stadt, bemalten eine Woche lang Häuserwände und Mauern. Ein voller Erfolg: Sieben weitere Festivals sollten folgen. Über die Jahre ist in Covilhã dadurch eine offizielle Streetart-Tour mit etwa 40 Bildern entstanden.
Schon der Name WOOL macht deutlich: Das Andenken der Stadt spielt eine zentrale Rolle. In fast jedem Kunstwerk findet sich der Bezug zur Vergangenheit - mal ist er offenkundig, wie beim Bild einer klöppelnden Frau mit drei Armen. Bei anderen braucht es Hintergrundwissen. Beispielsweise darüber, dass dieses überlebensgroße Porträt im Stadtzentrum nicht nur einen alten Mann, sondern einen stadtbekannten ehemaligen Fabrikarbeiter darstellt. Oder dass jene Pflanzen, die eine Künstlerin auf einer Hauswand zum Blühen brachte, zum Färben von Wolle benutzt werden. Jahrzehntelang war das kleine Städtchen mit den gut 50 000 Einwohnern für seine Textilindustrie über die Grenzen des Landes hinaus bekannt, wurde gar als das "Manchester Portugals" bezeichnet. Tausende verdienten ihr Geld in den Fabriken der Region. Doch auch vor Covilhã machte die Globalisierung nicht halt: Als die Waren aus Afrika und Fernost den Markt überschwemmten, musste seit den Achtzigerjahren eine Fabrik nach der anderen schließen.
Covilhã ist schon geografisch ein spannender Ort: Die Stadt krallt sich auf 700 Metern Höhe an den südlichen Hang des Naturparks der Serra da Estrela. Die "Stadt der Wolle und des Schnees", wie viele Portugiesen sie nennen, ist der Ausgangspunkt schlechthin für alle Wanderer und Mountainbiker, die eine Auszeit in den nicht gerade zahlreichen Bergen Portugals suchen. Sonst hatte die Stadt touristisch lange Zeit wenig zu bieten, sagt Luís Veiga, Geschäftsführer der Natura-IMB-Hotelgruppe. Er leitet fünf Hotels in der Region. "Früher kamen die Leute zu uns, um direkt in die Berge oder die historischen Dörfer der Region zu fahren. Niemand schaute sich Covilhã selbst an", sagt Veiga. Das sei nun anders. Der Hotelbesitzer vertraut auf den positiven Einfluss der Kunst in der Stadt: "Wir sind dabei, auf diese Art unser Erbe und unsere Identität wiederzuentdecken", sagt er. Veiga ist so überzeugt, dass er das Festival als Investor unterstützt und fleißig Werbung dafür macht. Der Hotelinhaber möchte von der Streetart profitieren. Ob sich seine Investitionen lohnen, weiß er nicht. Aber er glaubt daran.
Nicht immer war es für Lara Seixo Rodrigues so leicht, die Leute zu überzeugen. Streetart - das klingt für viele eben nach illegaler Schmiererei, auch und vor allem für die lokalen Behörden Portugals. Zwar ist die Hauptstadt Lissabon weltbekannt für ihre urbane Kunst, doch die Szene ist in Portugal noch sehr jung; sie schwappte erst vor wenigen Jahren aus Spanien herüber. Die Architektin leistete Überzeugungsarbeit, teilweise über mehrere Jahre. Mit der Stadtverwaltung von Covilhã kämpft sie jedes Jahr wieder um die finanziellen Mittel für WOOL. Jedes Festival könnte das letzte gewesen sein. Ob es 2020 stattfindet, ist noch unklar.
Der Erfolg des Projekts hat sich allerdings schnell in der ganzen Region herumgesprochen, und so passiert es immer häufiger, dass die Stadtverwaltungen anderer Orte selbst auf Rodrigues zukommen. So zum Beispiel jene von Estarreja, einem unscheinbaren Dorf etwa 50 Kilometer südlich von Porto. "Streetart ist für uns eine strategische politische Entscheidung", sagt die dortige Kulturverantwortliche, Isabel Pinto. Vor drei Jahren versuchte sich Estarreja an seinem ersten Streetart-Fest; seitdem gab es schon zwei weitere Festivals. Mithilfe der Kunst will die Stadtverwaltung die Plätze im Ort verschönern, ihnen "einen Mehrwert geben", sagt Pinto. Klar, Freiluftkunstwerke lassen sich wesentlich leichter vermarkten als die teils heruntergekommenen Fassaden - morbider Charme hin oder her.
Früher waren in Estarreja viele Chemiewerke angesiedelt. Die Gemeinde war in der Region vor allem für den Gestank bekannt, der von den Fabriken zur nahe gelegenen Autobahn waberte. Zwar will man dieses negative Image nicht verleugnen, doch die lokalen Behörden versuchen, dem Ort ein neues Gesicht zu geben - und Streetart hilft dabei. Auch in Estarreja ist man bemüht, mit den Kunstwerken einen Bezug zur Identität des Ortes zu schaffen. "Die Leute hier sollen sich mit dem, was sie sehen, identifizieren können", sagt Pinto. Deshalb werde die Gemeinde in das Festival eingebunden: "Das ist fundamental wichtig." Es soll keine Aktion sein, bei der Künstler aus aller Welt anreisen, die Straßen verzieren und wieder verschwinden. Die Einwohner sind aufgefordert mitzumachen: Es gibt Streetart-Workshops, geführte Touren und Gespräche.
Viele Städte im Zentrum Portugals wollen Streetart für ihre Zwecke nutzen. Manche, wie Estarreja, versuchen das auf sensible Weise. Andere Politiker betrieben damit schlicht Wahlkampf, sagt Rodrigues. Wie solche Vorhaben enden können, wird in Viseu deutlich, das etwa 100 Kilometer nordwestlich von Covilhã liegt. Auch hier werden die Fassaden während eines Festivals in Kunstwerke verwandelt. Schön anzusehen sind sie, doch irgendetwas ist anders als in Covilhã. In Viseu veranstaltet die Stadtverwaltung das Festival eigenständig - und sie hat eine sehr genaue Vorstellung davon, wie dieses Fest und seine Kunstwerke auszusehen haben. Den Künstlern bleibt offensichtlich nur wenig kreativer Raum. Das sieht man den Bildern an: Ihnen fehlt es an Leidenschaft - Viseu liegt in einer Weingegend, jahrelang machte die Stadt deshalb den Wein zum Thema des Festivals. Trauben und Weingläser säumen die Hauswände, daneben findet sich der banale Spruch "In vino veritas".
Die Überraschung bleibt meistens aus. Solch "traurige Wände" will Lara Seixo Rodrigues bei den Festivals, die sie organisiert, unbedingt verhindern. Sie versorgt ihre Künstler vorab mit Informationen über die jeweilige Region, die Stadt, stellt ihnen Fragen, besucht mit ihnen Museen und bringt sie mit den Einwohnern ins Gespräch. Dann lässt sie ihnen freie Hand. Nicht immer entstehen dabei Kunstwerke mit tieferer Bedeutung. Im Strandort Figueira da Foz etwa hat Rodrigues viele Streetart-Künstler begleitet, deren Malereien einfach nur hübsch anzusehen sind - insbesondere in Verbindung mit den für den Ort typischen bunten Häuschen.
In ihrer Heimatstadt Covilhã geht das Konzept der 40-Jährigen auf. Unter den Einwohnern finde sich kaum jemand, der auf die Streetart schimpfen würde. Dem Klischee zum Trotz seien gerade die Älteren neugierig und stellten viele gute Fragen, sagt Rodrigues und erzählt eine Geschichte: So sei das erste Werk in Covilhã, der Schäfer und sein Schaf, auf einer Fassade direkt neben der örtlichen Kirche entstanden. Sonntags kamen die älteren Einwohner zur Messe. Doch statt die Kirche zu betreten, trugen sie kurzerhand Stühle herbei, schauten den Künstlern zu und löcherten sie mit Fragen. Der Gottesdienst war für diesen Sonntag vergessen.