Reisen mit Handicap:Blinder Passagier

Christoph Ammann

Christoph Ammann auf vertrautem Terrain: dem Zürcher Flughafen. Wenn es schwieriger wird, hilft ihm ein Begleiter.

(Foto: Bruno Torricelli)

Ein Reisejournalist, der nicht sehen kann - geht das überhaupt? Ja, und zwar sehr gut, wie das Beispiel unseres Autors zeigt.

Von Christoph Ammann

Der letzte Zweifel verfliegt: Ich bin in Amsterdam. Nirgendwo sonst wechseln Geruchsschwaden von Marihuana und Waffelbäckereien in so untrüglicher Regelmäßigkeit, akustisch untermalt von den Glockenspielen der Kirchtürme und dem unbarmherzigen Klingeln der Radfahrer. Jeder Ort der Welt besitzt wohl seine sensorische DNA: die Jasminreisgerüche der Garküchen, verbunden mit dem Rattern der Tuktuks unter einer schwülen Dunstglocke in Bangkok oder der Mix aus Pizzadüften und dem Moder fortschreitenden Zerfalls in Neapel, aufgeheitert durch italienisches Palaver.

Seit sechs Jahren bin ich unterwegs in der Welt, ohne mich auf das Augenlicht verlassen zu können. Eine Auswertung fehlt, aber ich schätze, dass ich heute zu 99,9 Prozent blind bin. Erbliche Netzhautdegeneration, Retinitis pigmentosa, hieß die Diagnose. Ich nehme nur noch Lichtquellen wie Straßenlaternen, Vollmond oder den Bildschirm des Fernsehers wahr und an guten Tagen die Metallstufen der Rolltreppen, die im grellen Licht glitzern. Trotz des Handicaps übe ich meinen Beruf als Reisejournalist weiter aus. Das Schreiben habe ich nicht verlernt, die Computerstimme von Max begleitet mich treu durch den Alltag, eine Assistentin unterstützt mich im Büro.

Natürlich bin ich am liebsten unterwegs auf Recherche, sammle Eindrücke und Informationen, aus denen Reisereportagen entstehen. Kürzlich hieß das Ziel Niederlande, Tagesausflug per Fähre nach Texel inbegriffen. Fütterung der gestrandeten Seehunde im Ecomare auf der Nordseeinsel: Der Blondschopf, der die Tiere Rob, Karien und Antonius mit Heringen aus einem Blecheimer erfreut, kommentiert die Show über Mikrofon auf Holländisch und liefert eine rudimentäre deutsche Zusammenfassung. Unter dem Raunen der Zuschauer schnappen die quirligen Räuber nach den Fischen. Wie auf Kommando stürzt sich eine Möwe vom Himmel und entreißt Rob die Beute. Vier weitere Möwen rammen die Schnäbel in den fetten Fisch und zerfetzen das Fleisch in einer spektakulären Flugshow. Die Zaungäste sind begeistert. Ich sitze abseits auf einer Betonstufe und versuche, mir aus den dürftigen Erklärungen des Tierpflegers, den Reaktionen des Publikums, dem wütenden Gekreische der Vögel und dem Plätschern des Poolwassers einen Reim auf das Geschehen zu machen. Doch nur, weil meine aufmerksame Begleiterin die Details beschreibt, entsteht in meinem Kopf ein einigermaßen präzises Bild der Fütterung. Wie sonst würde ich die Anzahl der Seehunde und Möwen registrieren oder die Haarfarbe des Tierpflegers erkennen?

Die häufigste Frage, die dem blinden Reisenden gestellt wird: "Haben sich deine anderen Sinne verbessert, seit du nichts mehr siehst?" Die Antwort: "Ich höre, rieche, schmecke oder fühle nicht besser als früher. Aber die Situation zwingt mich, die vier unversehrten Sinne gezielt einzusetzen." Bin ich alleine unterwegs, orientiere ich mich zum Beispiel aufgrund des Schalles. Das Ticktack meines Blindenstockes klingt auf freiem Feld anders als in einer Häuserschlucht. Ich sammle Gerüche. Schließlich riecht eine Kleiderboutique anders als eine Kneipe. Der Luftzug verrät Straßenkreuzungen, Lücken in Häuserfronten oder Brücken. Mein weißer verlängerter Arm tastet sich entlang von Bürgersteigkanten über Kopfsteinpflaster und Treppen. Auf Bahnhöfen und an Busstationen sind die taktilen Linien unverzichtbar. Schade nur, dass sie ausgerechnet in jenem Teil des Zürcher Hauptbahnhofs fehlen, den ich täglich auf dem Weg zur Arbeit benutze. Ohne die Hilfe von Mit-Passagieren finde ich die Rolltreppe unmöglich.

Wenn ich ohne Begleitung fliege, muss ich bei der Buchung Unterstützung im Airport anfragen. Sie wird von den Airlines kostenlos gestellt und hat mir schon schöne Begegnungen mit interessanten Helfern beschert - mit japanischen Hausfrauen in Zürich, vietnamesischen Studentinnen in Singapur oder Feuerwehrmännern in Leipzig. Und an Bord identifiziert mich die Crew kurioserweise als Flugneuling und bietet einen privaten Crashkurs im Gebrauch der Sauerstoffmaske an.

Dank GPS und Smartphone navigieren sich manche Blinde erstaunlich gewandt durch die Welt, bei mir besteht in puncto digitalem Support noch Luft nach oben. So bin ich in unbekannter Umgebung zwingend auf Assistenz angewiesen. Alleine wäre ich chancenlos auf den Straßenmärkten von Hongkong, an der Uferpromenade von Bordeaux oder wie unlängst auf dem Areal des königlichen Schlosses von Het Loo in den Niederlanden. Dass sich der auffallend heitere Kassier im Selbstbedienungsrestaurant von Het Loo zu seinen Gunsten um drei Euro verrechnete, war bestimmt ein Versehen und kein Anschlag auf die Reisekasse eines Blinden.

Die besten Begleiter sind jene, die konzentriert, aber nicht verkrampft, energisch, aber nicht schulmeisterlich führen und klare Ansagen erteilen. Eine Kollegin, die mich häufig begleitet, brachte mich im brasilianischen Nordosten vom Ferienort Pipa zu einer nur zu Fuß erreichbaren Badebucht. Der Marsch durch ein Labyrinth von Basaltfelsen dauerte 20 Minuten. Ich bewältigte die Klettertour ahnungslos und ohne Stress, doch die Kollegin kam ganz schön ins Schwitzen und sagte bei einem Caipirinha auf dem Liegestuhl: "Puh, zum Glück hast du nicht gesehen, wie verblockt der Weg war und wie viele Gefahren lauerten."

Christoph Ammann (59) ist Leiter der Reiseredaktion von SonntagsZeitung, Tages-Anzeiger und Der Bund in Zürich. Er arbeitet seit 31 Jahren als Reisejournalist. Seit sechs Jahren ist er blind.

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