Porträt:Sein Universum

Thomas Cornelius

Die Orgel der Elbphilharmonie hat ihre Tücken und Besonderheiten. Thomas Cornelius kennt sie alle.

(Foto: Maxim Schulz)

Thomas Cornelius ist Organist an der Elbphilharmonie. Wohl keiner kennt das Instrument besser als er.

Von Silke Pfersdorf

Mitternacht. Die Elbphilharmonie schläft im Mondlicht. Bis Schritte durch ihren Großen Saal mit seinen weinbergartigen Zuschauerrängen hallen: Thomas Cornelius betritt seinen Lieblingsplatz, öffnet eine zwischen den Prospektpfeifen verborgene Tür, nimmt die enge Wendeltreppe dahinter, gleitet von einer Welt in die andere - geradewegs in den Bauch des Konzerthauses, in ihre Orgel. 4765 Pfeifen hat diese, rund 1000 davon, die mit den sensiblen Metallzungen, muss Cornelius jetzt stimmen. Fünf Stunden wird ihn das kosten. Aber die Nacht ist ja noch jung.

Cornelius streift grüne Gummihandschuhe über und macht sich an die Arbeit. Ein bisschen Chirurg, ein bisschen Michael Schumacher. Der, hieß es, hörte seinem Rennauto nach wenigen Metern an, wo ein Tropfen Öl fehlte, ein Schraube nachzuziehen war. Cornelius geht es mit der Orgel genauso. Er horcht jedem ihrer Töne nach, erahnt jedes Zittern, scheint Temperaturveränderungen ihrer Zungen zu erspüren, hört, ob sie einen schlechten Tag hat - und greift auch selbst mal in die Kiste mit Holz, Werkzeugen, Lederresten, um kleine Malaisen zu beheben. Vielleicht kennt keiner das Königsinstrument der Elbphilharmonie besser als er. Und natürlich den straffen Terminplan des Konzerthauses. Proben, Besichtigungen, Inspektionen. Irgendwas ist immer. Deshalb bleiben Cornelius zum Stimmen nur Unzeiten.

Ein Ton. Und noch einer. Mit viel Wumms. "Die Orgel müsste waffenscheinpflichtig sein", sagt der 33-Jährige. "Die zerschießt einem das Trommelfell.100 Dezibel direkt an der Pfeife, das geht nur mit Ohrstöpseln und zusätzlichen Kopfhörern. Weil nach hinten hin kein Platz war, breitet sich die Orgel nach oben und unten aus. 180 Kubikmeter Luft werden durch ihre Kanäle geblasen. Aber bitte: Man wollte ein Instrument, das mit einem Sinfonieorchester mithalten kann. Das hat man jetzt. Dazu einen Saal, der gnadenlos ist. Seine Akustik schleudert jedes Husten, jedes Räuspern von den Rängen auf die Bühne. Piccoloflöten müssen leise spielen, eine Tuba ist oft zu laut. Einige Musiker haben Angst vor der Elbphilharmonie.

Andere Jungs haben Burgen errichtet, er baute Orgelpfeifen aus seinen Duplosteinen

Die Wucht einer Orgel zog Cornelius schon als kleinen Jungen in den Bann. "Sonntags in der Kirche dachte ich: Damit kann man auch als kleiner Mensch eine laute Stimme haben." Statt Flugzeuge oder Burgen baute er in seinem Zimmer mit seinen Duplosteinen Pfeifeninstrumente nach. Dass er sich neben der Geige auch am Klavier schon bald als Überflieger entpuppte, überzeugte den Schleswiger Domorganisten, ihm Unterricht zu geben. "Damit begann für mich ein neues Leben", erinnert sich Cornelius. Statt zur Schule zu gehen, bog er oft lieber zum Üben zur Kirche ab. Es folgten Orgellehrer in Lübeck und Hamburg, nach dem Abi ein Musikstudium, Praktika beim Orgelbauer. Und irgendwann die Engagements als Organist des NDR-Elbphilharmonieorchesters, dem späteren Hausorchester der Elbphilharmonie. "2016 ging ich mit den Orgelbauern der Bonner Werkstatt Johannes Klais und dem Akustiker Yasuhisa Toyota das erste Mal durch die Orgel, da standen gerade mal ein paar Pfeifen", sagt Cornelius. Das fertige Instrument erschien ihm wie ein neues Universum, seine Tücken und Besonderheiten wie liebenswerte Charaktereigenschaften. Eine der Pfeifen etwa klingt wie ein Schiffshorn. "Ein bisschen Hokuspokus verstecken Orgelbauer ja immer", sagt Cornelius. Manchmal ist es der Klang von Glasscherben hinter einer Pfeife. Oder der Gesang einer Nachtigall.

Ein bisschen fühlt sich der Hamburger wie der Vater dieser Orgel. Dass er gerade an ihr übte, als der Anruf kam, dass seine Frau in den Wehen lag - für ihn ein Schicksalsmoment, einer von vielen. Er spielte sein Stück seelenruhig zu Ende, fuhr dann ins Krankenhaus, wurde Vater. "Dieser Tag wird immer mit der Orgel verknüpft sein." Zu Hause übt Cornelius an einem selbstgebauten Instrument. Bei nur 120 Pfeifen und wenigen Pedalen ist das oft reine Kopfsache: "Wenn ich Pedale treten muss, die meine Orgel nicht hat, trete ich halt ins Leere." Längst hat er eigene Stücke geschrieben. "Metamorphosen". Und "Die Vier Elemente". Feuer, Wind, Wasser auf dieser Orgel? Echte Naturgewalten halt. Anlässlich des Hamburger Orgeljahres 2019 entwarf Cornelius sogar die Orgel-App "Play-Arp", mit der man virtuell ein paar Töne auf einer Orgel des vor 300 Jahren verstorbenen Meisterbauers Arp Schnitger ausprobieren kann. Neulich entdeckte Cornelius einen Papierflieger in der Orgel. Und ein Ricola-Bonbon. Abgelegt in einer der Pfeifen. "Vielleicht auch eine Art Liebesbeweis", sagt er.

Die Nacht ist fast zu Ende, die letzte Pfeife ist gestimmt. Einmal, erzählt Cornelius, habe er seinen neugeborenen Sohn beim nächtlichen Üben mit dabei gehabt. "Ich saß am fahrbaren Spieltisch unten auf der Bühne und habe natürlich so leise wie möglich gespielt", sagt er. "Aber erst als ich lauter spielte, ist er eingeschlafen." Das müssen die Gene sein.

Thomas Cornelius bietet regelmäßig Führungen zur Orgel an: www.elbphilharmonie.de/de/fuehrungen/orgel

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