Süddeutsche Zeitung

Polen:Durchs wilde Masuren

Der Fluss Krutynia zieht jedes Jahr Tausende Paddler an, die auf einem perfekt erschlossenen Wasserweg die Seenplatte erkunden wollen. Besonders reizvoll wird es im Herbst.

Von Ingrid Brunner

Ein grüner Baldachin aus Ästen und Blattwerk wölbt sich über den Paddlern. Das Wasser ist so klar, dass man am Grund feines Gras in der Strömung wallen sieht wie Frauenhaar. Als wären es dazu passende Haarspangen, schimmern an anderen Stellen silbern die Schalen von Süßwassermuscheln, sie sind eine bevorzugte Nahrungsquelle des Flussotters. Wer auf der Krutynia unterwegs ist, versteht, warum einige stark gewundene Abschnitte des Wasserwanderwegs mit dem Amazonas verglichen werden. Was wohl hinter der nächsten Flussbiegung wartet? Ein weiterer Pflanzentunnel oder ein See mit freier Sicht auf einen auffliegenden Reiher, einen Fischadler, einen Storch?

Polen, besonders die Masurische Seenplatte im Nordosten des Landes, ist Storchenland. An die 50 000 Tiere, ein Viertel der Weltpopulation des Weißstorches, Ciconia ciconia, nisten dort im Sommer, auf Dächern, Schornsteinen, Strommasten, sogar auf dem Turm des neugotischen Schlosses in Sorkwity (Sorquitten), das einst der ostpreußischen Adelsfamilie Mirbach gehörte und nun einer neuen Zukunft entgegenträumt. Manch ein Dorf in Masuren hat mehr Störche als Einwohner, das ist auch in Sorkwity so. Paddler auf der Krutynia blicken immer wieder staunend nach oben, wenn ein Storch mit einer Spannweite von bis zu 2,20 Meter, einen Frosch oder eine Maus im Schnabel, über sie hinweg segelt.

Allzu lang sollte man freilich nicht in die Luft schauen, denn zur romantischen Wildnis der Krutynia gehört auch, dass sich die Bäume zuweilen tief über das Wasser beugen. Kollisionen mit im Wasser treibenden oder herabhängenden Ästen sind gar nicht mal so selten. Da der Fluss aber sehr gemächlich dahinfließt, ist das Schlimmste, was dabei passieren kann, dass man baden geht. Trocknen kann man sich am Ufer, an einer Wasserstation, wo die Bootsfahrer ohnehin gern für eine Einkehr anlegen.

Zehn solcher Wasserstationen gibt es an der Krutynia-Route, der wohl populärsten Paddelstrecke der Masurischen Seenplatte. In guter post-sowjetischer Tradition sind sie durchnummeriert. Größe und Lage der Wasserstationen variieren, doch deren Ausstattung ähnelt sich. Sie werden von der PTTK, der Gesellschaft für Tourismus und Landeskunde, einem landesweiten Verein, betrieben. Zwischen Birken und Trauerweiden finden die Gäste am Ufer den Bootsanleger, den Bootsverleih, dahinter einen Campingplatz mit Ferienbungalows, ein Gasthaus mit Pensionszimmern. Wer Luxus sucht, ist hier fehl am Platz. Aber für Paddler, Radfahrer und Wanderer ist das hier eine gut funktionierende Infrastruktur, um naturnah und günstig Urlaub machen zu können.

Übernachtungsgäste frühstücken in den Wasserstationen reichlich und deftig. Schon morgens gibt es heiße Würstchen und polnische Wurstspezialitäten, aber auch Brei oder Pfannkuchen mit Waldbeeren. Die Köchinnen der Wasserstationen scheinen sich gegenseitig übertreffen zu wollen, in einem heimlichen Wettbewerb, wer die größte Auswahl an Piroggen hat. Es gibt die Teigtaschen gefüllt mit Fleisch, Fisch, Pilzen, Gemüse oder Pflaumen. Sie schwimmen in Suppe oder werden mit Salat oder Sauerkraut serviert. Hunger muss niemand leiden auf der Paddelstrecke zwischen der Wasserstation Nummer eins in Sorkwity und der Nummer zehn in Ruciane-Nida. Gut hundert Kilometer lang ist der Wasserweg. Er führt durch 16 lang gestreckte Rinnenseen, der Fluss selbst ist nur Zubringer von See zu See und misst lediglich circa 30 Kilometer.

Wer nur eine Teilstrecke oder eine Tagestour machen möchte, lässt sich per Kleinbus von der Wasserstation zum gewünschten Startpunkt bringen und am Ziel abholen. Besonders die Polen kämen vermehrt für solche Kurz- und Eintagestouren, sagt Robert Wróbel, Direktor des Touristischen Informationszentrums in Mrągowo (Sensburg). Deutsche Gäste hingegen bleiben gern länger, sie gelten als passionierte Langstreckenpaddler. "Während der Sommerferien ist hier Hochbetrieb, dann sind täglich bis zu 2000 Boote auf dem Wasser", sagt Wrobél. Dann ist Rushhour auf dem kleinen Fluss.

Krutyń, Wasserstation Nummer sieben, gilt als Hauptstadt der Paddelboote. Hinter Zäunen und direkt am Wasser sind auf Regalen Hunderte roter und gelber Kajaks gestapelt. An die 50 000 Besucher kommen jährlich in das nur 300 Einwohner zählende Dörfchen Krutyń, sagt Wrobél. In der Hochsaison verkaufen Händler direkt am Wasser Snacks und Getränke an die Touristen, sie müssen nicht mal aus dem Boot aussteigen. Zu viel Tourismus sei das ganz bestimmt nicht, beteuert Wróbel in sehr gutem Deutsch. Im Gegenteil: Er wünscht sich mehr Investitionen, neue Radwege und Ladestationen für E-Bikes. Als Vorbild schwebt ihm der belebte Touristenort Mikołajki (Nikolaiken) vor, mit Marina und Spaßbad samt Wellness-Center.

Das gefällt längst nicht allen. "2000 Leute pro Tag auf dem Wasser sind einfach zu viel", sagt Waldemar Bzura. Schon jetzt sieht er für die Natur im Landschaftspark Masuren die Grenzen des Verträglichen erreicht. Tatsächlich erkennt man bei genauerem Hinsehen auf den Grund oder im Schilf die eine oder andere Getränkedose. Bzura ist Naturfilmer und Fotograf und leitet das Naturwissenschaftliche Museum des Landschaftsparks in der Gemeinde Krutyń - ein langer Name für diese kleine, aber lohnende Schau, die in einem der typischen kleinen Holzhäuser untergebracht ist.

Besucher finden dort in Vitrinen die gesamte Flora und Fauna der Region. Seit 30 Jahren arbeitet Bzura, Jahrgang 1956, im Landschaftspark. Seit 28 Jahren fotografiert er. Bzura zeigt den Besuchern des Museums auch seinen Dokumentarfilm über den Landschaftspark und dessen Schönheit durch die vier Jahreszeiten. Als junger Mann habe er in einer Kapelle gespielt, bei Hochzeiten und anderen Festen. So sei er nach Krutyń gekommen und geblieben. Was sich in den 30 Jahren verändert hat?

"Aus der Vogelperspektive sieht es hier immer noch gut aus", sagt er, denn: "Noch sieht man den Müll nicht." Er beklagt, dass viele Warschauer im Naturpark ihre Wochenendhäuser bauen, dass Paddler an unerlaubten Stellen an Land gehen, wild zelten und Brutvögel aufscheuchen. Immerhin, sagt Bzura anerkennend: "Zweimal im Jahr wird aufgeräumt." Die Führer der Stakenboote machten das von sich aus. Und auch die Schulklassen sammeln im September Müll. Noch aber sei vieles intakt, räumt er ein. Sonst kämen nicht Birdwatcher aus ganz Europa. Sogar die Luchse sind zurück, in den Siebzigerjahren waren sie fast ausgerottet. Und es gibt wieder elf Wölfe in der Johannisburger Heide, der Forst ist mit mehr als tausend Quadratkilometern Fläche der größte Wald Polens.

Beschaulicher ist es im Frühsommer, Ende Mai, Anfang Juni. Dann hört man hier den Kuckuck rufen, die Störche klappern, Libellen, Hummeln und viele Insekten summen. Am Bootsanleger der Wasserstation Krutyń verteidigt allenfalls ein zischender Schwan sein Revier für sich und seine Kükenschar gegen ein paar Angler oder die Stakenbootführer, die Rentner und fröhlich lärmende Schulklassen spazierenfahren. Oder im Herbst, wenn sich Störche und Kraniche sammeln und ihre Reise in die Winterquartiere antreten.

Reiseinformationen

Anreise: per Bahn ab Berlin über Poznań (Posen) und Toruń (Thorn) nach Olsztyn (Allenstein), Fahrtzeit ca. 7 Stunden, www.bahn.de. Mit dem Flugzeug z. B. mit Lot Polish Airlines von Deutschland nach Warschau, ab 117 Euro hin und zurück, www.lot.com

Unterkunft: Die Wasserstation Krutyń bietet Zimmer, Bungalows und Campingunterkünfte für Gruppen bis zu neun Personen. Die Nacht im DZ kostet ca. 18 Euro p. P. mit Frühstück. Die Leihgebühr für Paddelboote beträgt ca. 9 Euro/Tag und Rücktransport, https://kajaki-krutynia.pl

Allgemeine Auskünfte: www.polen.travel

Hinweis

Die Recherchereise für diesen Beitrag wurde zum Teil unterstützt von Veranstaltern, Hotels, Fluglinien und/oder Tourismus-Agenturen.

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Quelle:
SZ vom 12.09.2019/ihe
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