Petit St. Vincent:Die feine Robinsonade

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Hier kann man sich seine eigene Trauminsel schaffen: Die Antillen-Insel Petit St. Vincent ist nicht irgendeine Insel, sondern die Insel schlechthin - sie ist ein Kosmos für sich.

Tanja Rest

Ziemlich genau ein Jahr nachdem er bei der Air Force ausgecheckt, sein bisheriges Leben zu Geld gemacht und mit seinem Kumpel Doug ein Segelboot gekauft hatte, hörte Haze Richardson auf zu rauchen.

Nicht, dass er das Rauchen satt hatte. Verdammt, er liebte es sogar! Sie setzten das Großsegel, hissten die Focks und sahen zu, wie der Bug der Jacinta eine See entzwei schnitt, die aus ihrem Innersten zu leuchten schien und auf eine Art und Weise endlos war, dass man es nicht fassen konnte. Und dann zündete er sich eine an.

Sommer '63: Es war das ganz große Freiheitsding, doch eines Tages waren sie so pleite, dass es nicht mal mehr für Zigaretten reichte. Wenn in Grenada nicht ein amerikanischer Passagier an Bord gekommen wäre, wenn sie auf diesem 14-Tage-Törn nach Martinique nicht zuerst die Sympathie und schließlich das Vertrauen von H. G. Nichols aus Cincinnati gewonnen hätten - wer weiß, was aus Haze Richardson geworden wäre. Aber eine Karibikinsel besäße er heute ganz bestimmt nicht.

Petit St. Vincent ist nicht irgendeine Insel, sondern die Insel schlechthin. Was eine mäßig originelle Phantasie an einem aschgrauen Wintertag in Deutschland halt so ausbrütet, wenn die Kälte durch die Jackenärmel robbt und der Menschenlärm auf einmal unerträglich wird.

Nicht eine Menschenseele

Eine Insel, gesäumt von Sand, weiß wie Carrara-Marmor. In einem Meer von Türkis, wie im Photoshop koloriert, und so durchsichtig, dass die Papageienfische unten auf dem Grund ovale Schatten werfen. Zwischen zwei Zedernstämmen die Hängematte, von einer warmen Brise hin und her geschaukelt; am Himmel die eleganten Pirouetten der Fregattvögel. Und kein Handyklingeln! Nicht eine Menschenseele!

Das Urlaubsresort Petit St. Vincent wäre die Karikatur aller Insel-Klischees, ein so billiger Allerwelts-Fluchttraum, dass man sich beinahe dafür schämen müsste. Läge er nicht wirklich da, im Archipel der südlichen Antillen, Teil des Zwergenstaats St. Vincent und der Grenadinen: Einer von einer Hand voll Smaragde, hundert Kilometer südwestlich von Barbados ins Meer gestreut. In einem der schönsten Segelreviere der Welt.

Wie der ehemalige Kriegspilot Haze Richardson zu dieser Insel gekommen ist und was er im Lauf der Jahrzehnte aus ihr gemacht hat - dass er sie eben nicht an einen Hotelkonzern verpachtete oder wenigstens ein strammes Management installierte, das die Sache für ihn durchzog: Spuren dieser ziemlich verrückten Geschichte findet der Besucher auf Petit St. Vincent überall.

Zum Beispiel sind auf den Hügeln und an den Stränden entlang genau 22 Cottages verteilt, und das ist selbst für eine sehr kleine Insel mit kaum fünfzig Hektar Fläche nicht besonders viel. Jedes Häuschen ist aus lokalem Lavastein der Sorte "Blue Bitch" gebaut, freundlich eingerichtet und ansonsten ganz und gar schnörkellos.

Nicht mal einen Schlüssel braucht man hier. Es gibt genau drei elektrische Geräte: einen CD-Player, einen Fön und eine große Taschenlampe für Spaziergänge nach Sonnenuntergang. Es gibt nicht: Radio-Fernseher-Internet-Telefon.

Wer dem Personal etwas mitzuteilen hat, benutzt die Bambusrohrpost. Ein Wunschzettel, in den Fahnenmast vorm Cottage geschoben und die gelbe Flagge gehisst - wenig später trifft das Frühstück ein. Noch besser ist eigentlich nur die Alternative: Rote Flagge aufziehen, und kein Mensch kommt.

Das Ergebnis ist der präzise Gegenentwurf zu allem, wovor der automatisierte Zivilisationsknecht immer mal wieder schreiend davonlaufen möchte, und im ersten Moment so real wie blühender Raps in einer Winterlandschaft: Entschleunigung statt Hetze, Einsamkeit statt Enge, Reduktion statt Multitasking - die totale Abkoppelung vom Raumschiff Alltag.

Fast könnte man auf den Gedanken kommen, es handele sich nicht in erster Linie um ein Urlaubsresort für zahlungskräftige Robinsone, sondern dass sich hier einer zunächst mal seine eigene Trauminsel geschaffen hat. Und genau so ist es auch.

"Natürlich könnten wir problemlos noch zehn Cottages bauen. Aber dann wäre es ein anderes Produkt. Und mal ehrlich - wer braucht so viele Leute?" An der grünen Südflanke von Telescope Hill sitzt Haze Richardson in dem Restaurant, das sein alter Segelfreund Doug entworfen hat.

"Privacy, you understand"

Vor ihm steht ein Glas Wein; unterm Tisch schlummert James Monroe, einer von fünf Labradors, den er nach dem 5. Präsidenten der USA benannt hat. Draußen Regen. "Privacy, you understand. Kein Fernseher, kein Telefon, kein Trubel. Unsere Gäste schätzen das."

Mit 70 Jahren hat Haze den abgebrannten Schoner-Captain sichtbar weit hinter sich gelassen. Er ist immer noch ein hemdsärmliges Trumm von einem Kerl, aber die Augen schauen jetzt durch riesige Brillengläser und unterm Karohemd wölbt sich eine kapitale Kugel.

Keine Frage: Hier residiert ein Mann mit einer Vorliebe für gutes Essen und schwere französische Rotweine, der vor langer Zeit seinen Frieden gemacht hat mit der Welt. Trotzdem, Mister Richardson: Wie war das damals, mit Doug, der Jacinta und diesem Passagier aus Cincinnati? "It"s a long story", sagt Haze. "You really want to hear it all?"

H. G. Nichols war ein reicher Erbe, mit vielen Millionen aus dem boomenden Zeitungsgeschäft und einer nicht minder liquiden Gattin ausgestattet. Das traf sich gut, denn er träumte einen Traum, an dem ein mindestens sechsstelliges Preisschild baumelte. "Nick wollte eine Karibikinsel kaufen. Also sahen wir uns für ihn nach einer um."

Eines Abends, ihr neuer Bekannter ging längst wieder seinen Geschäften in Ohio nach, ankerte die Jacinta vor Petite Martinique; Haze und Doug schluckten in der örtlichen Strandbar ordentlich Rum, blickten aufs Meer hinaus und sahen: die Insel schlechthin.

Drei grüne Hügel - Marni, Windy und Telescope Hill - gesäumt von marmorweißen Stränden, umrahmt von tiefschwarzen Korallenbänken in einem Meer von Türkis.

Die Insel hatte ursprünglich dem Erzbischof von Trinidad gehört und war dann auf seltsamen Wegen in den Besitz einer einheimischen Lady namens Lily Bethel gelangt. Lily hatte erst ihren Mann und dann zwei Söhne an die See verloren, der dritte war ein Tunichtgut. Verkaufen wollte sie trotzdem nicht.

"Old Bethel? No chance!", sagten sie auf Petite Martinique. Haze und Doug verstanden das so, dass sie nichts zu verlieren hatten.

Showdown bei der Witwe

Es lohnt, sich diesen Showdown bei der Witwe vorzustellen. Ein einfacher Raum mit Bett und zugezogenen Vorhängen, dahinter die See als ein vages Aroma von Salz und grenzenlosen Möglichkeiten. Im Bett liegt Lily mit gebrochener Hüfte, davor hocken zwei Burschen Anfang 30 - drahtig, hungrig, nussbraun nach Monaten an Deck.

Haze und Doug haben sich fein gemacht, sie haben in der Kajüte ihr sozusagen letztes Hemd hervor gekramt und werfen jetzt alles in die Waagschale: Charme und Abenteurertum und Dreistigkeit, es ist ein unwahrscheinliches Husarenstück. Aber als sie Stunden später zur Jacinta zurückrudern, haben sie Petit St. Vincent so gut wie in der Tasche. Über die exakte Summe schweigt sich Haze bis heute aus. "Es war ein fairer Deal, für beide Seiten."

Bliebe nachzureichen, dass H. W. Nichols 1966 der rechtmäßige Besitzer eines Grenadinen-Eilands wurde; dass Haze und Doug erst eine Entsalzungsanlage, dann ein Restaurant und schließlich die Cottages bauten; dass das Urlaubsresort Petit St. Vincent 1968 eröffnete und vom General Manager Haze Richardson nach und nach aufgekauft wurde.

Zwanzig Jahre später setzte Nichols die finale Unterschrift auf die Besitzurkunde. Heute wohnt Haze mit seiner Frau Lynn und den fünf Labradors in einer luftigen Villa oben auf Windy Hill, und wenn er nicht gerade im Miniatur-Trekker über seinen Privatbesitz kurvt, läuft er oft die paar Minuten rüber ins Restaurant auf ein Glas Rotwein und einen Plausch mit dem Barkeeper.

"Es ist wie in einer Gemeinde hier", sagt er. "Ich fühle mich weniger als Besitzer, sondern eher wie ein Bürgermeister."

Um das Wohl dieser kleinen Inselgemeinde kümmert sich Hazes zweite Frau Lynn. Auch sie hat eine Biografie, die für einen Roman locker reichen würde - einen Roman, versteht sich, dessen Umschlag ein Zweimaster schmücken müsste. In Michigan geboren, hat auch Lynn eines Tages alles hinter sich gelassen und ist mit einem Freund fünf Jahre lang kreuz und quer durch die Karibik geschippert.

Sie war Segelmacherin, Bootsbauerin und Feldforscherin für die amerikanische Regierung in Grenada, eine Studienreisende auf den Spuren der karibischen Kultur. Als sie 1987 am Rande der Petit St. Vincent Regatta Haze Richardson begegnete und sich verliebte, wollte sie es zunächst nicht wahrhaben. "Allein die Vorstellung, sesshaft zu werden, nicht mehr davonsegeln zu können - ich dachte: No way!"

80 Menschen, allesamt von den umliegenden Inseln, arbeiten heute auf Petit St. Vincent. Dass jeder Neuling von den Dienstälteren angelernt wird; dass alle, die morgens noch das Frühstück serviert und Taucherbrillen ausgehändigt haben, abends an der Resort-Bar willkommen sind; dass zehn von ihnen ein Mal im Jahr auf Kosten der Richardsons nach Disneyland fliegen: Das ist zuallererst Lynns Verdienst. "Ich habe so lange unter diesen Menschen gelebt, ich verstehe, wie sie empfinden. Wir sind eine Familie", sagt sie.

Auch sonst funktioniert Petit St. Vincent wie ein ziemlich intakter Mikrokosmos - Lummerland auf karibisch. Die Richardsons beherbergen maximal 44 Gäste, die an jedem Sonntag zur Cocktailparty in ihr Wohnzimmer geladen sind. Sie haben einen kleinen Hafen, ein paar schmale Sträßchen und einen kleinen Berg mit Aussichtspunkt.

Sie haben eine Farm, wo sie Hühner züchten und ihr eigenes Obst und Gemüse anbauen. Sie haben sogar eine eigene Badeinsel, einen winzigen Flecken Sand in der Nähe des Südufers, mit einem einzelnen Sonnenschirm aus Palmwedeln darauf. Nur die Welt hinter dem Horizont, die sich hartnäckig weigert, nach dem Prinzip von roter und gelber Flagge zu funktionieren: Die hat auf Petit St. Vincent keinen Eintritt.

Es dauert ein wenig. Aus eben jener Welt hinter dem Horizont kommend und nach einer nimmer endenden Anreise jäh in die vollkommene Sinnfreiheit entlassen, sieht der Besucher einen Anspruch an sich gestellt, den er zunächst nur schwer erfüllen kann. Nichtstun in Form von Schnorcheln? Von Lesen, Joggen, In-der-Hängematte-Liegen?

Nichtstun in Form von Nichtsdenken und Nichtswollen, was darf"s denn bitte sein? So reißt man sich schließlich die Schuhe von den Füßen und traumwandelt am Strand entlang.

Riesige Kegelmuscheln liegen da inmitten von rosa blühendem Early Morning Glory, Lachmöwen schäkern, signalgelbe Krabben verkriechen sich beim geringsten Anzeichen eines jagenden Fregattvogels in ihre Löcher. Die Ruhe ist so groß, dass sie schon wieder rastlos macht. Wenn es noch einen Beweis gebraucht hätte, dass das alles irgendwie nicht wahr sein kann, dann sind es die beiden gelbbrüstigen Bananenfinken, die bei der Rückkehr ins Cottage fiepend an der Lampe hängen. Ein Gefühl von Ohnmacht wächst.

Erst am zweiten Abend - der Regen hat einem schwefelgelben Wolkenpanorama Platz gemacht, der Blick geht weit hinaus übers Meer - sickert mit einem eiskalten Gin Tonic allmählich die Erkenntnis in einen hinein, dass am Mast von Cottage Nr. 14 die rote Fahne prangt, dass wirklich kein Mensch, nicht mal der Room Service, die selbst gewählte Einsamkeit stören wird.

Und dass das, für eine kleine Weile, wunderschön ist so.

© SZ vom 5.1.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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