Süddeutsche Zeitung

Inka-Stätte Choquequirao in Peru:Zu Besuch bei der Schwester Machu Picchus

Machu Picchu ist toll, aber überlaufen. Nicht so eine andere geheimnisvolle Inka-Stätte in Peru: Choquequirao. Doch bald ist es mit der Ruhe auch hier vorbei.

Von Sebastian Erb

Gegen Ende des ersten Tages, nach Stunden durch die Hitze, über steinige Pfade und einen reißenden Strom, Gesicht und Arme von Moskitos zerstochen, kommt der Zweifel. Wäre es nicht zumindest eine gute Idee gewesen, ein oder zwei Maultiere mitzunehmen fürs Gepäck? So machen es schließlich die meisten. Und der Rucksack ist einfach verdammt schwer bei dieser extremen Steigung. Aber wir wollten es mit eigener Kraft schaffen nach Choquequirao, der alten Inkastadt.

Von unten im Canyon sah das Tagesziel so nah aus, ein leuchtend grüner Fleck rund 600 Meter höher, der wie ein Balkon über dem kargen Hang thront. Man konnte Bananenstauden und Maispflanzen erkennen. Jetzt aber sieht man gar nichts mehr außer die paar Meter Staub und Steine vor den Füßen. Bald wird die Sonne untergehen. Choquequirao, die "Wiege des Goldes", wie die Ruine übersetzt heißt, lässt sich nur zu Fuß erreichen. Die Wanderung dauert insgesamt vier Tage, 32 Kilometer hin und 32 wieder zurück, fast 6000 Höhenmeter sind es im Auf- und Abstieg durch die peruanischen Anden.

Die Wanderung ist eine Alternative für alle, denen Machu Picchu zu überlaufen ist. Die legendäre Inkastadt ist für viele Südamerika-Urlauber das Ziel Nummer 1. Viele reisen überhaupt nur deswegen nach Peru. Machu Picchu ist dem Ansturm kaum mehr gewachsen, der Treck dorthin ist monatelang im Voraus ausgebucht. Dazu kommen viele Backpacker und Pauschaltouristen, die direkt zum Weltkulturerbe fahren und mindestens 50 Dollar Eintritt bezahlen. Die Ruinenstadt ist fast schon ein kleines Disneyland. Die Besucherzahl wurde inzwischen auf 2500 am Tag begrenzt. In Choquequirao, die auch "die Schwester Machu Picchus" genannt wird, ist das anders. Noch. Aber zunächst muss man überhaupt hinkommen.

Die erste größere Schwierigkeit der Wanderung haben wir bereits überstanden: die Überquerung des Apurímac. Weit unten in einem der tiefsten Canyons der Welt fließt er, ein Quellfluss des Amazonas, ein Strom voller brauner Brühe, auf der weißer Schaum tanzt. Da die alte Brücke vor Jahren bei einem Hochwasser zerstört wurde und die neue noch nicht fertig ist, muss man hier einer besonderen Zwischenlösung vertrauen: einer Seilbahn. Wobei Seilbahn etwas hochtrabend ist. Es handelt sich um eine Metallkiste mit Holzboden, per Rolle an einem Stahlseil aufgehängt, das über den Fluss gespannt ist. Den Rucksack einladen, einsteigen und los. Eine rasante Fahrt - bis zur Flussmitte. Dann muss man sich an einem dünnen Tau langsam emporziehen. Es wackelt und geht ziemlich in die Arme.

Wir schleppen uns weiter den Berg hinauf. Ein Mann kommt uns entgegen, er hüpft regelrecht den Pfad hinab. Noch ein oder zwei Stunden, sagt er freundlich. Es soll motivierend klingen - und bewirkt das Gegenteil. Wo gibt es hier eisgekühlte Inca-Kola? Die goldgelbe Nationallimonade würde nie besser schmecken als jetzt. Langsam weiter. Als wir endlich im Weiler Santa Rosa ankommen, ist es schon dunkel, vor den Holzhütten flackern Feuer. Im Schein der Stirnlampen bauen wir unser Zelt auf. Schnell schlafen wir ein und wachen später kurz auf, als es so klingt, als streife ein fauchender Puma direkt ums Zelt.

Am nächsten Morgen beim Kaffee vom Gaskocher, die Bäume triefen noch nach dem nächtlichen Regen, setzt sich Julián Covarrubias zu uns. Anfang dreißig ist er, ein kleiner Mann mit einem runden, freundlichen Gesicht. Er ist der Wart des kleinen Zeltplatzes und wohnt direkt auf dem Platz in einem Häuschen, das ein Solarpaneel auf dem Dach hat. Weil er Probleme mit den Beinen hat, kommt er kaum von hier weg. Aber er bekommt dafür umso mehr mit. Wahrscheinlich gibt es in der ganzen Gegend keinen besseren Erzähler.

Der Großvater erzählt seinem Lieblingsenkel von der Entdeckung der Stadt

Pumas kämen hier nur selten vorbei, sagt er. "Und wenn, dann töten wir sie." Wahrscheinlich sei das in der Nacht ein Ozelot gewesen. Überhaupt die Tiere. Brillenbären gebe es hier viele. Und dann erzählt er minutenlang von einer Spinne, die bei ihm wohnte, die aber wohl doch keine Spinne gewesen sein kann, weil sie nur sechs Beine hatte. Aber eigentlich wollte er ja berichten, wie seine Vorfahren Choquequirao entdeckten.

Die Geschichte gebe immer der Großvater an seinen Lieblingsenkel weiter, sagt Julián Covarrubias. So habe er sie vor einigen Jahren zum ersten Mal gehört.

Um 1880 also kamen seine Vorfahren in die Gegend, auf der Suche nach neuem, fruchtbarem Land. Sie fuhren erst mit einem Floß, denn es gab keine Wege durch den unberührten Urwald. Sie rodeten den Wald mit Feuer. Sie verloren die Kontrolle über das Feuer, deshalb mussten sie sich in einer Höhle verstecken. Drei Monate lang. Julián Covarrubias erzählt in einem verwaschenen Spanisch, lautmalerisch und mit viel Drama. Es ist nicht ganz leicht, ihm zu folgen. Noch weniger lässt sich sagen, wo Fiktion sich in die Realität einwebt. Aber vielleicht spielt das auch keine Rolle.

Nach dem Feuer fanden seine Vorfahren zumindest Tiere, die sie essen konnten. Mehr tot als lebendig landeten sie dann hier an diesem Ort, den sie Santa Rosa nannten, nach der heiligen Jungfrau. Sie holten Frauen und Kinder nach. Und als sie dann weiter den Wald erkundeten, entdeckten sie Steine, eine Ruine: Choquequirao. Für eine Weile wohnten sie sogar dort. Aber es ging nicht gut. Seltsame Stimmen waren zu hören, Kinder starben gleich nach der Geburt. Ein verfluchter Ort.

Anderthalb Stunden hat Don Julián jetzt schon erzählt. Er humpelt in sein Haus und holt eine schmale, durchsichtige Flasche, darin: in Alkohol eingelegte Schlangen. Julián Covarrubias nimmt einen tiefen Schluck. Wir müssen los.

Mit der Höhe ändert sich die Vegetation. Es wird feuchter, der Weg durch den Nebelbergwald ist schlammig, am Rand stutzen Arbeiter mit Macheten das Gestrüpp. Wir kommen durch den Weiler Marampata, wo Juliáns Vater wohnt, zum offiziellen Parkeingang. Der Parkwächter scheint gerade erst aufgestanden zu sein. Er fragt, woher wir kommen, Deutschland, aha, und verlangt 37 Soles, umgerechnet elf Euro.

An den steilen, bewaldeten Hängen tauchen die ersten steinernen Terrassen auf, angelegt vor 500 Jahren. Das letzte Stück laufen wir ohne Gepäck. Der Hauptplatz von Choquequirao ist überraschend groß. Das Gras leuchtet grün, es sieht aus wie feinster englischer Rasen. Steinmauern alter Gebäude stehen hier, das waren früher Werkstätten und Verwaltungsgebäude. Etwas erhöht steht das Haus des Priesters. Ein Stück weiter den steilen Hang hoch, schauen wir uns die aus weißen Steinen zusammengesetzten Lama-Wandbilder an, die es sonst nirgends gibt: 25 Tier-Darstellungen, die in die Terrassenwände eingefasst sind. Erst vor zehn Jahren wurden sie von Archäologen entdeckt, über ihre Bedeutung streitet man noch heute.

Knapp ein Drittel von Choquequirao wurde bislang ausgegraben. Vollständig freigelegt wäre das Gelände sogar größer als das von Machu Picchu. Aber die Arbeiten stocken seit Jahren, zwei staatliche Institutionen streiten sich um die Zuständigkeit. Bis heute weiß man recht wenig über die Inkastadt. Für den Handel spielte sie wohl eine wichtige Rolle, aber auch für religiöse Zeremonien. Die Aussicht jedenfalls ist grandios, sie allein wäre schon Grund genug, hier eine Stadt zu errichten.

Eine Sache ist ganz anders als bei Machu Picchu: Den ganzen Nachmittag sind wir allein hier, gut 3000 Meter über dem Meer. Denn bislang wandern nicht einmal 500 Leute im Monat hierher, die meisten in Gruppen. Das dürfte sich aber ändern. Bald schon sollen auch hierhin viele Touristen kommen. Mit einer Seilbahn. Und zwar nicht mit so einer Kiste, die uns über den Río Apurímac brachte, sondern mit einer modernen Pendelbahn über das tiefe Tal. Die Fahrt soll direkt an der Fernstraße beginnen und eine Viertelstunde dauern. Auch dieses Inka-Erbe wird dann viel Geld einbringen. Wann genau, ist noch unklar. Ein Gerichtsurteil brachte den ursprünglichen Zeitplan durcheinander.

"Hier wird sich alles ändern"

Julián Covarrubias weiß nicht so recht, was er davon halten soll. Er sei nicht grundsätzlich gegen eine Seilbahn, sagt er. Aber sie dürfe nicht ganz oben enden, an diesem mystischen Ort. Für ihn ist das ein "Angriff auf ein Kulturerbe". Dort oben sei das Gestein nicht stabil genug zur sicheren Verankerung der Seilbahnstützen. Ein Erdbeben, und der ganze Berg könne kollabieren. Ein verfluchter Ort.

Julián Covarrubias profitiert jetzt schon von den Touristen. Er bekommt ein paar Soles pro Zelt und verkauft Limonaden und Snacks. Aber er hat auch Angst, dass die Leute die Landwirtschaft vernachlässigen, weil sie nur noch Geld im Tourismus machen wollen. Denn es wartet ein großes Geschäft, davon ist auch Jan Willem van Delft überzeugt. "Hier wird sich alles ändern", sagt er. In der naheliegenden Stadt Abancay wird ein Flughafen gebaut, bislang ist der nächste in Cusco, das sind vier, fünf Stunden mit dem Bus. Auf der anderen Talseite von Choquequirao wird ein Touristendorf entstehen, mit Hotels und Restaurants.

Jan Willem van Delft ist Bergsteiger, und mit Freunden war er immer wieder in Peru, um Gipfel zu erklimmen. Als ein Freund ein Haus zu verkaufen hatte, schlug er zu. Das Dorf Cachora kannte er vorher nicht, aber er war gleich verliebt. Zurück in den Niederlanden, kündigte er seine Jobs und reiste wieder nach Peru, um zu bleiben. Seine Pension hat er im Jahr 2006 eröffnet. Ein günstiger Zeitpunkt, denn in jenem Jahr wurde auch der Wanderweg fertiggestellt. Seine Pension liegt genau am Startpunkt des Weges. Am Anfang hat van Delft regelmäßig selbst Gruppen nach Choquequirao geführt, inzwischen beschäftigt er dafür lokale Mitarbeiter.

Die geplante Seilbahn sieht er ziemlich gelassen. Egal, wie viele Leute bald in der Ruine herumtrampeln werden: "Die Wanderung nach Choquequirao", sagt er, "die wird immer wunderschön sein."

Information

Anreise: Flug von Frankfurt/Main nach Lima und zurück ca. 800 Euro. Weiter per Inlandsflug nach Cusco (ca. 150 Euro hin und zurück) und mit dem Bus oder dem Nachtbus nach Abancay (ca. 16 Stunden, 50 Euro) und mit dem Sammeltaxi nach Cachora.

Die Wanderung: Dauer: vier bis fünf Tage. Der Weg ist gut ausgeschildert, man braucht nicht unbedingt einen Führer. Übernachtung auf Zeltplätzen.

Beste Zeit: April/Mai und September/Oktober. Die Brücke über den Fluss wurde inzwischen erneuert. In Cusco verlangen Anbieter etwa 300 US-Dollar für die Tour.

Übernachtung: in Cachora am Beginn des Weges: Pension Casa de Salcantay, pro Person 27 Euro, www.salcantay.com (auch Tourorganisation).

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SZ vom 28.05.2015/ihe
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