Peru:Das Wochenende der sieben Gefahren

Der vielleicht extremste Kurztrip der Welt: von Lima über die Anden in den Urwald. Wer die Risiken überwindet, bekommt jede Menge zu sehen.

Sebastian Schoepp

Lima ist die zweitgrößte Wüstenstadt der Welt nach Kairo. Von April bis November hüllt dichter Nebel die grauen Steinhaufen ein, auf die Perus Hauptstadt gebaut ist. In dieser Zeit starten Limeños, die es sich leisten können, gerne in das vielleicht extremste verlängerte Wochenende der Welt: eine Achterbahnfahrt von der Pazifikküste in den Urwald, die auf und ab fast neuntausend Höhenmeter überwindet, und nicht mehr als sieben Stunden dauert.

Oroya

Eine Fahrt durch La Oroya, einen der zehn verseuchtesten Orte der Welt.

(Foto: Foto: AFP)

Das passt zur To-go-Mentalität unserer Tage. Man nimmt gewissermaßen im Vorbeigehen drei Superlative mit: aus der Wüste über die Anden nach Amazonien. Andererseits ist es Reisen wie in früheren Zeiten. Denn am Weg lauern sieben Gefahren. Wer sie überwindet, bekommt jede Menge zu sehen.

1. Lima

Die Region Chanchamayo auf der Ostseite der Anden ist das Ziel. Die Busse dorthin starten in La Victoria, einem übel beleumundeten Viertel der Neun-Millionen-Stadt Lima. Taxifahrer bringen einen nur ungern dorthin, weil Diebe häufig Autobesitzer samt Wagen entführen, vor allem nachts. Morgens aber brodelt La Victoria vor Geschäftigkeit, von Dieben nichts zu sehen. Der Bus ins Paradies kriecht langsam durch die grauen, staubigen Elendsviertel.

An einer Haltestelle wartet ein DJ mit vier schrankgroßen Boxen. Man staunt, was alles in den Gepäckraum eines Busses passt. Die Boxen müssen groß sein, denn in Chanchamayo ist Fiesta, und die Peruaner lieben es laut. Das gilt auch fürs Busfahren. Es läuft ein Video, Bruce Willis räumt in einer virtuellen Welt mit seinem intergalaktischen Maschinengewehr auf. In der realen Welt des Busses geht die Klimaanlage nicht. Es ist heiß, sehr heiß.

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Das Wochenende der sieben Gefahren

2. Die Carretera Central

Die Straße, die Lima mit Amazonien verbindet, führt durch ein enges Tal in die Anden hinauf. Mehr als tausend Höhenmeter in der Stunde. Der Bus passiert rostige Brückenbauwerke, die aussehen wie aus einem Tim- und Struppi-Comic. Über sie schnauft eine alte Eisenbahn hinauf zu den Minen, in denen Blei, Silber und Kupfer gefördert werden. Auf der Straße sind Laster unterwegs, die so lang sind, dass sie jede Haarnadelkurve schneiden.

Der Fahrer des Doppeldeckerbusses überholt trotzdem vor jeder Kurve. Es war ein Fehler, den Sitz vorne an der Panoramascheibe zu nehmen. In einer Kurve liegt eine verlorene Achse mit Zwillingsreifen, eine Menschenmenge starrt in den Abgrund. "Sueño", murmelt der Mann auf dem Nebensitz, was heißen soll: Der Fahrer des Lkw, der dort unten liegt, sei wohl eingeschlafen. Die peruanische Zeitschrift Carretas vergleicht eine Fahrt auf dieser Straße mit dem Hollywood-Klassiker "Lohn der Angst", in dem es um abstürzende Laster geht. Der Bruce-Willis-Film liefert dazu den Soundtrack.

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Das Wochenende der sieben Gefahren

3. Der Pass

Die erste Pause. 4818 Meter steht auf dem Schild am Parkplatz. Auf den Sechstausendern rundrum liegt Schnee. Der Versuch, den dick vermummten Erdnussverkäufern zu entkommen, ist zwecklos. Sie sind an die dünne Luft gewöhnt, wir nicht. Wir kaufen Erdnüsse, obwohl wir keinen Appetit darauf haben. Weiteres Symptom der Höhenkrankheit ist das Gefühl, eine Betonplatte liege auf dem Kopf.

Das kommt davon, dass das Gehirn anschwillt, was einen aber nicht schlauer, sondern dumpfer macht. Eine Lamaherde zieht vorbei. Der Himmel ist tiefblau, die weißen Wolken vollführen surreale Schattenspiele auf den Gipfeln. Manche Menschen werden von Sauerstoffmangel euphorisch. Andere übergeben sich heftig.

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Das Wochenende der sieben Gefahren

4. La Oroya

Der Bus fährt an einem türkisfarbenen Bergsee vorbei, in den sich aus einer Mine ein gelblicher Abwasserstrom ergießt. "Schützt die Umwelt", steht auf einem Schild am Straßenrand. "Autowaschen verboten" auf einem anderen. Männer mit Indiomützen angeln in einem Fluss Forellen.

Wir kommen durch La Oroya, einen der zehn verseuchtesten Orte der Welt. Das liegt an der Bleiraffinerie und an der Mine, deren Besitzer sich kürzlich Appartements in New York für mehrere Millionen Dollar gekauft hat, wie Carretas berichtet. Eine Abordnung aus La Oroya, die über Umweltschutz verhandeln wollte, ließ er abblitzen. Wenn die Regierung in Lima Umweltauflagen androht, die Geld kosten, droht er, die Mine zu schließen. Dagegen demonstrieren dann die Bergarbeiter, indem sie die Carretera Central sperren. Wer zu Fuß weitergeht, ist Streikbrecher und bekommt Steine auf den Kopf. Heute ist kein Streik, Gefahr Nummer vier fällt also aus.

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Das Wochenende der sieben Gefahren

5. Tarma

Es geht bergab in das Tal von Tarma, genannt "Perle der Anden". Überall wachsen gelbe Blumen. Auch die Betonplatte hebt sich langsam vom Kopf. An den Hängen haben die Inkas einst Terrassenfelder angelegt, auf denen die Bauern auf roter Erde Mais, Tomaten, Kartoffeln, Yuca und Quinoa anbauen. Aus der alten Welt brachten die Spanier Bananen und Orangen mit. Mit den Eroberern kam im 18.Jahrhundert die Familie Santamaria in das Hochtal. Sie trickste einem Kaziken Grund ab und baute eine Hazienda mit Kapelle und allem drum und dran.

Ihre Nachkommen leben noch dort. Aus dem Anwesen mit seinen knarzenden Holzbalkonen machten sie ein kuschliges Landhotel, das in dieser kargen andinen Welt wirkt wie ein Stück magischer Realismus. Im Salon stehen barocke Möbel, an den Wänden hängen Ölgemälde der Altvorderen. Eine perfekte Historienkulisse, um sich von den ersten Strapazen zu erholen und im Garten in der Hängematte "100 Jahre Einsamkeit" von Gabriel García Márquez zu lesen. Man erwartet jeden Augenblick, hinter einer Tür einen vergessenen Verwandten anzutreffen, der vom Unabhängigkeitskrieg erzählt. Nachts gibt es eine Wärmflasche ins Bett gegen die Kälte.

Im Speisesaal hängt eine stockfleckige Heimwehtapete mit Jagdmotiven aus Europa. Dort traf sich die Familie Santamaria 1820 das letzte Mal, bevor sie gegeneinander in den Krieg zog, die jungen Heißsporne für die Republik Peru, die alten für die spanische Krone. Der Saal hat bessere Zeiten gesehen. Hier fehlt ein Stück Tapete, dort war mal eine Wand eingestürzt, erzählt Gabriel, der für das Hotel als Fremdenführer arbeitet.

Gabriel verströmt die Würde und Ernsthaftigkeit eines inkaischen Edelmanns, sein Spanisch ist voller schöner altmodischer Volten. Außerdem beherrscht er die andine Heilkunst, etwa, wie man die Krankheit eines Menschen durch Lesen in den Gedärmen eines Meerschweinchens diagnostiziert. Das hat er von seinem Großvater gelernt, der ihn dazu auserkor, nachdem er feststellte, dass Gabriel mehr Sensibilität für das Erbe der Alten mitbrachte als seine Brüder, die mit Steinschleudern auf die präinkaischen Felszeichnungen in den Bergen schossen. Das einzige, was man in Tarma jedoch mit Geschichte und Legenden anfangen kann, ist, sie für Geld Fremden weiterzuerzählen.

Ohne Leute wie Gabriel findet man hier gar nichts. Auch nicht Tarmatambo, einen Ort hoch über dem Tal, wo Perus Symbolblume La Cantuta wächst, und zwar an den Stellen, an denen der Legende nach eine sterbende Inkaprinzessin ihr Blut vergoss. Deswegen hat die Blume blutrote Blütenkelche, die in der Andensonne leuchten. Der gramgebeugte Prinz zog nach ihrem Tod ruhelos durch die Welt und spielte Flöte. Ist der das also, der immer im bunten Poncho in der Fußgängerzone El Condor Pasa spielt? Gabriel kann mit dem Witz nichts anfangen.

Er führt uns lieber in eine Höhle. Sie hat sieben Gänge, von denen sechs in die Irre führen. Nur einer war der Fluchtweg der Inkas vor den Spaniern und führt auf die andere Seite des Tales. Es riecht hier drin nach Kneipe vor dem Rauchverbot. Gabriel bittet um eine Zigarette, die er angezündet auf einen Felsvorsprung legt. Die sei für die Zwerge, die hier hausen, erklärt er. Wenn man ihnen keine Opfer bringe, hexten sie einem Gebrechen und anderes Unbill an den Hals. Man könne sie aber mit Schnaps und Kokablättern besänftigen. Daher der Kneipengeruch.

Bergab bringt uns ein Sammeltaxi nach Tarma zurück, und hier lauert unerwartet Gefahr Nummer fünf. Die Fahrer lassen ihre alten Toyotas gerne im Leerlauf den Berg hinabrollen wie Seifenkisten. Man könnte jetzt den Gringo-Schlauberger spielen und ihnen erklären, dass das keinen Tropfen Benzin weniger verbraucht, als wenn man den Gang drinlässt und die Bremswirkung des Motors nutzt. Man kann aber auch auf andinische Weise einfach die Klappe halten und hoffen, dass einen die rauchenden Zwerge beschützen.

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Das Wochenende der sieben Gefahren

6. Huaicos

In Tarma treffen wir wieder auf die Carretera Central, die sich durch Lehmziegelweiler namens Buenos Aires, Santa Fé und Santo Domingo hinab nach Chanchamayo schlängelt. In den Urwald! Aber gerade diesen Weg haben die Götter mit einer besonders heimtückischen Gefahr verstellt. Von oben schicken sie im Zorn manchmal Huaicos herab, Erd- und Steinlawinen, die Häuser und Autos unter sich begraben. Wir kommen dazu, als zwei Bulldozer riesige Felsbrocken, Dreck und Baumstümpfe von der Fahrbahn schieben. Erst letzte Nacht sei die Lawine heruntergekommen, erzählen die Kinder, die am Straßenrand gelbe Inka-Cola und fettige Bananenchips an die Autofahrer verkaufen. Wir warten mit einem blöden Gefühl im Bauch, bis die Bulldozer die Straße freigeben.

Die Schlucht wird jetzt enger und in Minutenschnelle wechselt die Vegetation. Weiter oben waren die Hänge kahl, hier wächst überall Dickicht, Schlingpflanzen hängen herab, fettes Dschungelgrün dünstet Nebelschwaden aus. Am Weg stehen Schirmakazien und Palmen. Bunte Vögel fliegen auf. Von den Felswänden prasseln Wasserfälle herab. Es ist heiß und feucht. Im Radio läuft Salsa statt Flötenmusik.

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Das Wochenende der sieben Gefahren

7. Chanchamayo

"Nein, einen Pool haben wir nicht", sagt die Besitzerin des kleinen Bungalowhotels in der Mandarinenplantage - "aber einen Wasserfall". Sie deutet auf einen Pfad, der hinter der letzten Bambushütte im dichten Urwald verschwindet. Mangos liegen am Boden, an den Bäumen wachsen Avocados fürs Abendessen. Sie drückt uns Stöcke in die Hand, für die Steigungen und gegen die Schlangen. Davon bekommen wir keine zu Gesicht. Dafür umso mehr Zancudos, winzige Blutsauger.

Wir sind im Nu übersät mit Stichen. Man weiß in diesem Moment nicht, was man mehr verflucht: Die Plagegeister oder die Reisegefährtin, die einem mitteilt, sie habe im Dorf Schilder gesehen, die vor Dengue-Fieber warnten, das eben diese Insekten übertragen. Ob einen Gefahr Nummer sieben erwischt hat, wird man erst in einigen Tagen wissen. Wir verdrängen die Frage beim Bad im Wasserfall. Kühles Andenwasser stürzt die Felsen herab, die Tropfen funkeln in der Sonne, die durch die Baumkronen blinzelt. Sinnlicher kann man die Nahtstelle zwischen Anden und Amazonien nicht erleben. Aber wir sind am Ziel.

Am nächsten Tag schließen wir uns Link an, der hier seine Dienste als Fremdenführer anbietet. Er ist japanischer Abstammung, amazonischer, lässiger, weniger feierlich als der Andenprinz Gabriel. Link durchkämmt gerne mit Freunden den Urwald auf der Suche nach Wasserfällen, die noch niemand kennt. Denen geben sie dann Namen wie "La Rubia", die Blonde. Kriminalität gibt es hier kaum, das Hotel hat nicht mal einen Zaun. Die meisten Menschen hätten, was sie zum Leben bräuchten, sagt Link: eine Hütte, einen Baum, von dem die Mangos fallen. Chanchamayo ist der Obstgarten Perus.

Link führt uns zu den Ashaninkas, einem indigenen Urwaldvolk, das sich erst kürzlich dem Tourismus öffnete. Es sei ihnen auch nicht viel anderes übrig geblieben, gibt der Häuptling zu verstehen. Um Jagdbeute zu finden, sei man inzwischen eine Woche unterwegs. Tropenholzfäller und Ölgesellschaften verscheuchen die Tiere, machen den Indigenen ihren Lebensraum streitig. Die Ashaninkas üben noch den Umgang mit Fremden, man muss sich bei ihnen einer Prozedur unterziehen, die nicht gefährlich, aber ein wenig peinlich ist: Die Frauen behängen uns mit braunen Kutten, Ketten und Kopfputz, bemalen unsere Gesichter, dann schlägt der Häuptling die Trommel zum Tanz. Leider ist er ein mäßiger Trommler.

Dafür sind die Ashaninkas treffsichere Bogenschützen. Der Häuptling zeigt uns seine Pfeile mit Metallspitzen. Mit denen kämpften sie ums Überleben, als sie in den achtziger und neunziger Jahren zwischen die Fronten der Armee und der Terrorgruppe "Leuchtender Pfad" gerieten. Deren Überbleibsel arbeiten heute für die Drogenbosse, die ihre Kokainlabors zwei Flusstagesreisen weiter im Urwald betreiben. Das wäre dann Gefahr Nummer acht - der wir uns definitiv nicht aussetzen werden. Außerdem bleibt ja noch der Rückweg.

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