Häuser sind im besten Fall eine Heimat. Der Fotograf Patrick Lambertz verdeutlicht das in seinen Aufnahmen von knapp drei Dutzend Chalets in der Schweiz auf eine bemerkenswerte, beinahe paradoxe Weise: Denn er raubt diesen Häusern in seinen Bildern beinahe jeden Kontext. Löst sie aus der alpinen Landschaft und dem Zusammenhang einer dörflichen Siedlung. Man sieht sehr wenig von den Orten, an denen sie stehen, nimmt so gut wie nichts von der Topografie wahr.
Auf den ersten Blick wirken die Motive sehr unscheinbar und recht gleichförmig. Von Menschen, von Bewohnern keine Spur. Selten steht ein Auto neben einem Chalet. An manchen Fahrzeugen fehlen jedoch die Nummernschilder. Keine Fußspuren im Schnee rund ums Haus, keine Lichter hinter den Fenstern.
Weil man nichts sieht als die Häuser, sieht man die Häuser
Lambertz hat in den vergangenen Wintern fotografiert, als die Ortschaften in der Ostschweiz, die er für sein Fotoprojekt besucht hat, unter einer Schneedecke lagen. Er hat Tage gewählt, an denen der Himmel bewölkt und das Licht dadurch diffus war. Und er hat den retuschierenden Effekt des Schnees in der Nachbearbeitung seiner Fotografien noch verstärkt, wie der Fotograf und Kurator Daniel Blochwitz in seinem Geleitwort für Lambertz' hochwertigen Fotoband "Chalets of Switzerland" berichtet.
Und weil man nichts sieht als die Häuser, sieht man die Häuser. Nicht als Teil einer Landschaft, in der sie womöglich wie Dekoration wirken, da die Bergflanke dahinter spektakulär ist oder irgendetwas auf den Weiden, in den Wäldern oder auf den Straßen rundherum passiert, das die Neugier auf sich zieht. Nein, man blickt auf die Fassaden der Chalets wie in Gesichter. Patrick Lambertz' Fotografien dieser Häuser sind Porträts.
Man sieht Gebrauchsspuren, Wunden - den Charakter der Häuser
Man sieht die Gebrauchsspuren, die Abnutzung der Fassaden, erkennt Wunden und Narben. Erkennt einen Charakter. Lambertz hat Chalets ausgewählt - die meisten von ihnen stehen im ländlich geprägten Kanton Schwyz zwischen Zürich- und Vierwaldstättersee -, die noch auf einen landwirtschaftlichen Betrieb verweisen und von Menschen aus angestammten Familien bewohnt zu sein scheinen. Die meisten dieser Chalets sind offenkundig noch nicht in Ferienwohnungen umgewandelt. Daniel Blochwitz schreibt dazu in seinem Text: "Pragmatismus kennzeichnet hier das Äußere, nicht der unbedingte Landleben-Verschönerungswillen von Großstädtern."
Ein Chalet, das war ursprünglich eine Schutzhütte. Oft nur fürs Vieh, manchmal auch für Menschen. Errichtet in Blockbauweise. Das hat im 19. Jahrhundert dazu geführt, dass sie in Serie gefertigt werden konnten, nach industriellen Maßstäben. Chalets waren das Exportprodukt, mit dem sich die Schweiz auf diversen der großen Weltausstellungen präsentierte. Davon profitiert hat die einschlägige Baubranche - und der Tourismus. Die Chalet-Architektur wurde übernommen für Hotels und Seilbahnstationen, auch für WC-Häuschen und Taubenschläge, wie der Ethnologe und Soziologe Edwin Huwyler in einem kurzen Essay erläutert.
Längst sind Chalets so emblematisch (nicht nur) für die Schweiz wie die an einem pittoresken See erbauten, ochsenblutrot gestrichenen Blockhütten für Skandinavien. Chaletdörfer sind der neue Standard im alpinen Tourismus. Den klammert Patrick Lambertz erst einmal aus in seinen Fotografien. Er zeigt Chalets, die gerade (noch) nicht zahlenden Gästen offenstehen.
Wobei er nicht ohne Weiteres in Position zu bringen ist als der Dokumentarist des (verblassenden) Authentischen. Zum einen war der Umgang mit Chalets seit jeher pragmatisch. Es wurde um- und angebaut, Holzfassaden wurden verputzt oder mit Eternitschindeln verkleidet. Keines der für "Chalets of Switzerland" fotografierten Häuser befindet sich noch in seinem ursprünglichen Zustand. An einem ist sogar die Werbetafel einer Brauerei angebracht, das Gebäude diente also offenkundig einmal als Wirtschaft oder Kneipe - die längst wieder geschlossen hat.
Und dann zeigen die Bilder natürlich sehr deutlich, weshalb Chalets als idealtypische Häuser angesehen werden, die Sehnsüchte und Begehrlichkeiten wecken. Sie sind von den Proportionen, von ihrer Ästhetik und ihrem Zuschnitt her für viele Menschen der Traum von einem Haus. Vergleichbar in ihrer Art und doch ein jedes individuell. Das in dieser vermeintlichen Schlichtheit zu inszenieren, ist ein bemerkenswertes Projekt. So behaglich man es sich in den Chalets wohl machen könnte: Patrick Lambertz veranlasst einen, vor ihnen stehen zu bleiben und sie von außen zu betrachten. Bis man ihre Gesichtszüge verinnerlicht hat.
Patrick Lambertz : Chalets of Switzerland. Hartmann Books, Stuttgart 2022. 184 Seiten, 49 Euro.