Patagonien:Wand im Wind

Patagonien Cerro Torre Fitz Roy

Der Traum vieler Alpinisten: Cerro Torre und Fitz Roy. Ganz klar sieht man sie selten.

(Foto: Imago Stock&People)

Früher führte nicht einmal eine Straße nach El Chaltén, inzwischen hat sich die Einwohnerzahl des Dorfes im Schatten von Cerro Torre und Fitz Roy verdreifacht. Es wurde zu einem "Bergsteiger-Woodstock" für junge Wilde der Alpinszene. Ihr größter Gegner: das Wetter.

Von Thomas Heinloth

An solchen Tagen sieht man ihn. Kein kalter Nebel und kein Eiswind heute, der trübe Luft in Schwaden gletscherabwärts bläst. Keine dunklen, schweren Wolkenschiffe am Himmel Patagoniens. Kein feiner, dichter Regen. Stattdessen ein paar junge Füchse schläfrig im harten, sonnengelben Gras, und in der stillen Luft ein Kondor, Achten schreibend in der Thermik - kein Flügelschlag, nicht einer.

An solchen Tagen also kann man Cesare Maestris Kompressor sehen, nicht mit bloßem Auge, doch durch Leo Fernández' Fernglas, wenn man mit dem Blick seiner Wegbeschreibung folgt: am Überhang zum Schneepilz links herunter, eine Seillänge ungefähr, dort, wo sich eine schmale Scharte durch den Fels zieht wie eine Narbe in der glatten Wand. "Siehst du ihn leuchten?", fragt Fernández dann. "Nur ein Haufen Schrott und funkelt trotzdem wie ein Schneekristall."

Der Kompressor: Das wohl berühmteste Stück Altmetall der Bergsteiger-Geschichte, seit 42 Jahren hängt er am Cerro Torre, eine monströse, benzinbetriebene Bohrmaschine, mit der sich der italienische Alpinist Cesare Maestri 1970 die senkrechte Granitwand zum 3128 Meter hohen Gipfel hinaufdübelte. Mehr als 350 Haken setzte er, die 180-Kilo-Maschine wuchtete Maestri mit Seilwinden höher und höher, bis zu dem Punkt, wo sie noch heute hängt. "Der Mann", sagt Leo Fernández, "muss eine Mordswut auf diesen Berg gehabt haben."

Wut, Verzweiflung und Glückseligkeit liegen eng beieinander am Cerro Torre, dem sagenumstrickten Zauberberg im äußersten Süden Argentiniens. Von allen Bergen sei er der eine unbezwingbare, so hieß es lange, ein singulärer Turm, wie ein Wächter neben der Märchenschlossfassade des Fitz-Roy-Massives, ein steinerner Finger, ein Obelisk, der sich durch die Wolken bohrt, ohne Halt und ohne Griff, gekrönt mit einer Eishaube.

Wie sollte man da hinauf? Maestri war der Erste, der einen Anlauf unternahm, 1959. Ob er tatsächlich auf dem Gipfel stand, weiß nur er allein. Beim Abstieg gerieten er und sein Bergkamerad Toni Egger in eine Eislawine, Egger starb, das angebliche Gipfelfoto ging verloren. Er sei oben gewesen, hat Maestri stets beteuert, doch die Zweifel wuchsen, und so kam er elf Jahre später wieder. Mit Wut auf den Berg im Bauch und dem Kompressor im Gepäck.

Leo Fernández kennt jede kleine Wendung der Geschichte und beinahe jeden Stein auf Maestris Weg zum Einstieg in der Wand. Mindestens zweimal die Woche steht er am Fuß der Gletscherzunge unterhalb des Berges, am Gipfel war er nie. "Wer weiß", sagt er, "vielleicht im nächsten Sommer." Bis dahin muss er sein Basislager richten, unten in El Chaltén.

"Von hier ist niemand"

Der Job als Tour-Guide ist nur eine Zwischenlösung, eine eigene Agentur wäre schon besser, ein Outdoor-Laden oder ein kleines Hostel, vielleicht mit einer Boulder-Wand im Garten: "In El Chaltén geht alles, nur lange warten darf man nicht." 24 Jahre alt ist er jetzt, hellwach und drahtig, einer, der nicht ruhig sitzen kann, mit felsgestählter Hornhaut an den Fingerkuppen, die flinken braunen Augen meist unter schwarzem Glas. Und wer seine blanken Zähne sehen will, fragt ihn, ob er von hier ist. Dann nämlich lacht Leo: "Von hier ist niemand hier."

Patagonien Cerro Torre

"In El Chaltén geht alles, nur lange warten darf man nicht": Wanderer am Cerro Torre.

(Foto: Imago Stock&People/ARCO Images)

Am Rio de las Vueltas steht noch das Haus des ersten Siedlers, der sich hier, wo Argentiniens Welt zu Ende ist, 1903 niedergelassen hat. Warum, lässt sich nur schwer erklären. El Chaltén, der Flecken unterhalb des Zauberbergs, im Schatten von Fitz Roy und Cerro Torre, ist ein Logenplatz vor dem erhabensten Bergwunder Südamerikas und zum Davonlaufen zugleich: Nichts wächst hier außer dürren Scheinbuchen und dornbewehrten Berberitzen, die Winter eisig und die Sommer kalt, das Tal eine Sackgasse, begrenzt von Stacheldraht, dahinter Chile. Als man 1937 in Buenos Aires beschloss, die Gegend zum Nationalpark zu erklären, hatte der Pionier von 1903 schon längst wieder seine Sachen gepackt.

Bis vor drei Jahren gab es nicht mal eine Straße, zumindest keine aus Asphalt. Wer nach El Chaltén wollte, nahm die staubige Piste von El Calafate, ein Viereinhalbstundenritt durch Schlaglöcher und ockerfarbenes Ichu-Gras, vorbei an Guanakoherden und Schafen auf den Weiden, die nachts der Puma holt. "Ein Außenposten", sagt Leo Fernández, "für eine Handvoll Freaks." Er kam im vergangenen Sommer, als er mit seiner Heimat Buenos Aires fertig war und den haferflockenfarbenen Teppich aus Zement am Río de la Plata tauschte mit dem Haufen dahingestreuter bunter Hütten zwischen Río de las Vueltas und Río Fitz Roy. Damals waren sie so um die Tausend hier, jetzt, nur ein Jahr später, hat sich die Einwohnerzahl von El Chaltén verdreifacht. Kein Ort Argentiniens wächst derzeit farbenfroher und rasanter.

Es riecht nach nasser Farbe und Zement unter dem Cerro Torre, und irgendeiner klopft und hämmert immer. Jedes zweite Grundstück ist eine Baustelle, für junges Volk und frische Träume. Wer hierher kommt, probiert sich aus, töpfert Matetassen oder verleiht Mountainbikes, links hat gerade eine Waffelbäckerei aufgemacht, rechts verspricht ein Bauschild ein neues Bed-and-Breakfast. Zwischen den Betonmischern stehen Liegestühle, Mülleimer sind Kunstobjekte hier, und in der Luft: mal Salsa und mal Reggae. "Ein kleines Bergsteiger-Woodstock", sagt Fernández, "nur ohne Gras."

Es sind vor allem die jungen Wilden der Alpinszene, die El Chaltén seit ein paar Jahren anzieht, Mittzwanziger mit Zöpfchen in den Ziegenbärten, an den Füßen Flipflops, in den Händen Steigeisen. Ein paar Kanadier versuchen sich an einer Boulder-Wand, eine Gruppe Südkoreaner sortiert Reepschnüre und Karabiner am Biertisch der kleinen Brauerei, dort, wo vor Kurzem noch die Huberbuam saßen.

Am Abend treffen sich die meisten dann in der Pizzeria Patagonicus, der Pizza und der alten Zeiten wegen. Das Patagonicus ist auch ein wenig Dorfmuseum, die Wände sind voll mit Erinnerungen in Schwarz-Weiß: Cesare Maestri, bärtig, auf einen Eispickel gestemmt, Toni Egger links im Arm und rechts Cesarino Fava. Er war der dritte Mann an Cerro Torre 1959, der aber nur bis zu einem Punkt unterhalb der Ostwand aufstieg und einen Tag später, nach dem Absturz seiner beiden Kameraden, den entkräfteten Cesare Maestri aus einem Eisfeld zog und nach El Chaltén schleppte. Die Wirtin des Patagonicus ist seine Tochter. Andrea Fava ist nicht da an diesem Abend, "Business-Talk in Buenos Aires", sagt Maria, die Kellnerin, und dass es wohl um ein neues Hotel gehe. "Alle wollen doch jetzt hierher."

Denkmal für Saint-Exupéry

Unter den gerahmten italienischen Alpinisten an der Bar: Leo Fernández, bei einem Matetee. Morgen früh bringt er eine Gruppe rauf Richtung Fitz Roy, zunächst entlang der Serpentinen oberhalb des Rio de las Vueltas, durch hellgrün leuchtendes Buchenlaub, immer höher, bis zur Baumgrenze, wo sich ein schmales Band aus Granitstaub steil durchs Geröll nach oben windet. Gut fünf Stunden sind es vom Ort bis zum Aussichtsbalkon vor dem Fitz Roy, und wer den Weg einmal gegangen ist, weiß, warum die letzte Kehre "La curva de suspiros", die Seufzerkurve, heißt. Der Blick versetzt einem einen Stich.

Patagonien Cerro Torre

Cerro Torre und Laguna Torre bei Vollmond

(Foto: Imago Stock&People)

Das Fitz-Roy-Massiv ist ein Gemälde, ein Idealtypus, ein Gebirgszug, so wie ihn Kinder zeichnen: beinah senkrechte Zähne, die in den Himmel ragen, bis 3406 Meter über dem Meer, wuchtig, kantig, scheinbar uneinnehmbar, ein gewaltiges steinernes Triptychon, aus dem sich eine mächtige Gletscherzunge Richtung "Lago de los tres" ergießt, des milchigen Sees zu Füßen des Massivs.

Die drei, die dem See den Namen gaben, haben je einen Gipfel darüber gewidmet bekommen: Saint-Exupéry, Mermoz und Guillaumet, die französischen Postflieger, die einst die Briefe zwischen Buenos Aires und Feuerland beförderten. "Ein besseres Denkmal", sagt Leo Fernández, "kann man nicht kriegen."

Wer noch Kraft hat, nimmt nicht den direkten Weg zurück, sondern quert ein Hochmoor südwärts, vorbei an der stillen Laguna Capri, an Stinktieren und Spechten, bis zur Laguna Torre, dem Gletschersee unterhalb des Cerro Torre. Maestri haben sie hier einen Aussichtspunkt gebaut, hierher bringt Leo jeden, der den Kompressor sehen will. Oft ist dann neben der berühmten Bohrmaschine eine Seilschaft unterwegs, längst hat der Cerro Torre seinen Ruf als unmöglicher Berg verloren. Im vergangenen Sommer hat er es seinen Bezwingern leicht gemacht: Die gefährliche Eishaube, die den Gipfel krönt, war so klein wie nie. "Mehr als 100 waren oben", sagt Leo, "mehr, als insgesamt bis dahin am Gipfel waren."

Er lässt den Blick noch einmal wandern, die glatte Wand entlang, die schmale Scharte, wo ein Stück Metall die Nachmittagsonne reflektiert. Der Gletscher gegenüber ächzt, Schmelzwasser sickert talwärts. Ein wenig Wind kommt auf. Und Leo Fernández hat es plötzlich eilig.

Patagonien Karte SZ Reise
(Foto: SZ Grafik)

Informationen

Anreise: Flüge über Buenos Aires oder Santiago de Chile zum Flughafen von El Calafate und zurück, ab Frankfurt ab ca. 1100 Euro.

Beste Reisezeit: Besonders schön ist die Region im November und im März.

Reisearrangements: Studiosus bietet eine dreiwöchige Wanderreise durch den chilenischen und den argentinischen Teil Patagoniens an, bei der auch eine Tour zum Fitz Roy im Programm ist; ab 6990 Euro pro Person, Tel: 0800/24 02 24 02, www.studiosus.de

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