Partynation Island:Heiße Nächte am Pol

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Eine Tour durch das erstaunliche Kneipenleben von Reykjavík: "Freitagnacht geht es erst um drei, halb vier richtig los!"

Gerhard Waldherr

Es ist eine trübe Ankunft. Zwei Stunden Verspätung, Regen, sechs Grad Celsius. Vor den Fenstern des Flughafenbusses erwarten einen ein graublauschwarzer Himmel, pechschwarzes Geröll und Schemen von bizarren Felsen. Irgendwann tauchen Laternen auf an einsamen Straßen, dann reihenweise Reihenhäuser, die aussehen, als seien sie durch eine Schablone gestanzt worden.

Aus dem Regen ist inzwischen ein Sturm geworden. Weil der Bus zu groß ist für die Straßen im Zentrum Reykjavíks, steigt man in einen Kleinbus um. Weil der Chauffeur des Kleinbusses sich verfahren hat und vor einer Einbahnstraße kapituliert, läuft man die letzten 200 Meter zum Hotel.

"Halldór Kiljan", ruft die freundliche Dame an der Rezeption des Hotels Thingholt, "wie sehen Sie denn aus!?" Beim Heiligen Kilian, wie jemand, der mit einem Koffer durch eine Waschanlage gelaufen ist! "Sie gehen jetzt", sagt die Dame daraufhin wohlwollend, "aufs Zimmer, ziehen sich um und vergnügen sich danach ein wenig." Warum denn das? "Sie sehen aus wie ein Mann, der ein Bier und eine Zigarette braucht."

Ein Parlament, das kleiner ist als jedes Rathaus in Berlin

Mag schon sein, aber bei dem Wetter jagt man keine Zigarette vor die Tür. "Sehen Sie die Tür am Ende der Lobby? Dahinter liegt unser Nightclub Domo." Ob sich das lohnt, es ist doch schon halb drei Uhr morgens? "Ach was, heute ist Freitagnacht, und Freitagnacht geht es erst um drei, halb vier richtig los."

Reykjavík hat 180 000 Einwohner, die Hälfte aller Isländer. Es ist die Hauptstadt eines Landes mit Vollbeschäftigung und dem fünfthöchsten Bruttosozialprodukt pro Kopf weltweit; im Human Development Index liegt Island an zweiter Stelle. Die Busse fahren mit Wasserstoff, 83 Prozent der Gebäude sind geothermisch beheizt. Reykjavík hat 16 Schwimmbäder, eine postmodern anmutende Kirche, die Hallgrimskirkja, die auf einem Hügel trohnt wie ein Palast aus einem Buch von Tolkien.

Es hat schicke Hotels, einen kleinen See, eine kleine Oper, ein kleines Theater, ein kleines Gefängnis, viele schöne Holzhäuschen im Stadtzentrum und ein Parlament, das kleiner ist als jedes Rathaus in Berlin.

Nichts ist groß in Reykjavík, dafür umso kurioser: Im zweiten Teil lesen Sie von fischigen Spezialitäten, Treffpunkten für Trolle und einem Mann, der das Nordlicht verkaufen will...

Es gibt Restaurants, in denen fermentierter Hai, in Schnaps marinierter Hering oder Carpaccio vom Wal auf der Speisekarte stehen; Supermärkte, in denen man selbst ein Brötchen mit der Kreditkarte bezahlt und die höchste Internet- und Mobiltelefondichte der Welt. Darüber hinaus haben Parapsychologen bewiesen, dass sich um die Stadt einige der größten Treffpunkte für Elfen und Trolle befinden.

Reykjavíks turbulentes Nachtleben, meint der Schriftsteller Hallgrimur Helgason, ergebe sich aus dem Umstand, "dass unser Jahr nur aus zwei Nächten besteht - die eine dauert von November bis März, die andere dauert von Mai bis August, die eine ist dunkel, die andere ist hell". Die jährlichen Höchst- und Tiefsttemperaturen verhalten sich entsprechend: 24,8 Grad plus und 24,5 Grad minus.

Zurück ins "Domo". Es ist halb vier, und aus einem Bier und einer Zigarette sind zwei Bier und vier Zigaretten geworden. Ringsum stehen junge, blonde Menschen. Die Mädchen tragen zu Dekolletee überwiegend Schwarz und kurz sowie knallige Accessoires. Die Jungs tragen zum offenen Hemd alles durcheinander. Mode wie aus einem Drogenrausch, wenngleich die Details im Gedränge etwas untergehen: Ledermantel und Federboa, Minirock und Wollmütze.

Der Laden ist brechend voll und jede Annäherung an den Tresen zwecks Bestellung ein Kampf. Während draußen kaum noch Schlote über den Dächern qualmen, trägt hier drinnen die Stadt ihren Namen "Rauchende Bucht" zurecht. Die jungen, blonden Menschen trinken im Akkord, knallen die leeren Gläser auf den Tisch. Ausgelassene Stimmung. Ein junger Mann mit Glatze fragt: "Willst du das Nordlicht kaufen?" Das könnte teuer werden. Ein Bier kostet umgerechnet acht Euro.

In einer Ecke steht Jón Kari mit Freunden. Jón sagt: "Isländer arbeiten hart und sie feiern hart." Er bestellt noch eine Runde, der Barkeeper füllt die Gläser mit einer schäumenden Mixtur. Jón sagt: "Wenn die Leute woanders feiern, feiern sie, um zu vergessen; hier feiern sie, um zu feiern." Einer von Jóns Freunden sagt: "Spaß haben, Mann!" Ex, weg ist die Brause. Auf der Tanzfläche kommt es zu anzüglichen Handlungen. So hat man sich das vorgestellt: Heiße Nächte am Polarkreis.

Warum ist Reykjavik das kreativste Kaff des Planeten? Hier geht es weiter:

Darum geht es in Hallgrimur Helgasons Bestseller "101 Reykjavík", in dem ein gewisser Hlynur durch die Nächte und fremde Betten katapultiert wird. Seine Perspektive auf die Welt gerät dabei gelegentlich in Schieflage; insbesondere, wenn er alkoholisiert zu Boden geht. Der isländische Regisseur Balthasar Kormakur verfilmte Helgasons Vorlage, addierte hysterische, leicht bekleidete Kids und ein bisschen Sex auf der Toilette. So entstand, wie Jón sagt, "das Image von der Spaßmetropole".

Jón Kari kann das nur recht sein, denn von diesem Image lebt er. Früher hat er für Iceland Air gearbeitet, lebte in Luxemburg, Paris und auf Barbados. Egal, wo er war, immer vermisste er Reykjavík, die wilden Streifzüge mit Freunden. Als er wieder zu Hause war, bot er die als Service an. Für 450 US-Dollar pro Wochenende geht Jón nun mit seinen Kunden auf Tournee, vermittelt "direkten Zugang zur Szene, jeder dritte, den ich treffe, ist mein Kumpel, die Lokale sind unser zweites Wohnzimmer".

45 Bars und Clubs gibt es allein auf der Austurstræti und der Laugavegur, den Hauptstraßen Reykjavíks, auf denen nach der Sperrstunde bis sechs, sieben Uhr morgens gefeiert wird. Dieses feucht-fröhliche Klima hat zuletzt neben Touristen auch Rockstars und Hollywoodsternchen nach Reykjavík gelockt. "Die sind vor allem begeistert, dass sich hier alles so spielerisch anfühlt", sagt Jón, "bei uns ist alles friedlich, fröhlich. Wäre das London, würden Fenster eingeschlagen und Autos demoliert."

Das Nachtleben gehört dazu, wenn man von Reykjavík als kleinster Großstadt der Welt spricht, oder aber der unterhaltsamsten Kleinstadt der Welt. Zugänglich wie ein Dorf, international wie eine Metropole. Darüber hinaus gilt Reykjavík als derzeit wohl kreativstes Kaff des Planeten. Die international renommierten Damen Torfadottir, Gunnarsdottir, Johannsdottir oder Palsdottir machen Schmuck, Möbel oder Teppiche, die von der rauen Natur Islands inspiriert sind. Frau Johannsdottir verarbeitet für ihre Mode vorwiegend Fischhaut.

Der Reykjavíker Künstler Hubert Noi malt verwunschen sentimentale Landschaften, die er beispielsweise 64° 05' 77'' N 21° 44' 45'' W 360° True North nennt. In jeder Garage, heißt es, probe eine Rockband. Der letzte renommierte Export: Sigur Ros. "Es gibt hier eine unglaubliche Dynamik", sagt Christian Schoen, Direktor des Center of Islandic Art (CIA.IS), "das hat mit der Mentalität der Isländer zu tun, dazu gehört auch das Freiheitsstreben - hier werden die Dinge nicht so kanalisiert, nicht so akademisch angegangen."

Und warum ticken die Isländer so? Ein Romancier erklärt:

Ein Mann, der ein Beispiel wäre für diese These, sitzt in einem Café in der Austurstærti, Ecke Lækjargata. Hallgrimur Helgason könnte jetzt darüber sprechen, dass ihn Literaturkritiker nach seinem jüngsten Roman "Rokland" mit Thomas Mann verglichen. Er könnte darüber sprechen, dass die Popularität Reykjavíks als hippe, trendige Reisedestination auch mit "101 Reykjavík" zu tun hat.

Doch Helgason sagt zunächst: "Wir Isländer sind eigentlich ein bisschen schizophren." Es sei zu lange dunkel im Winter, meint er, und zu lange hell im Sommer. Und dazu komme, dass man "uns tausend Jahre mit unseren verrückten Ideen und Gedanken, unserer unwirtlichen Natur allein gelassen hat".

Das habe früher einen Minderwertigkeitskomplex ausgelöst, doch es habe gleichzeitig die Menschen zu Kreativität und Phantasie gezwungen. "Die Landschaft befindet sich in dauernder Schöpfung, das Wetter ändert sich im Minutenrhythmus, nichts ist berechenbar. Es gibt wenig, wovor sich der Isländer fürchtet."

Grotesk, das Helgason ausgerechnet den ewigen Teenager, Leistungsverweigerer und Naturhasser Hlynur zum Protagonisten von "101 Reykjavík" gemacht hat. Hylnur, ein Mann ohne Mumm, Rückgrat und Ziel, der zu viel Porno guckt, nicht vor vier Uhr nachmittags aus dem Bett kommt, und der sich ständig fragt: "Halldór Kiljan, was mache ich hier?" Hlynur, so Helgason, "ist eigentlich kein guter Repräsentant Islands - wir sind offen, tolerant, naturverbunden, optimistisch und stolz."

Isländer sind darüber hinaus gebildet, sprechen mindestens zwei Fremdsprachen, Dänisch und Englisch, viele haben im Ausland studiert; bei Helgason war es Kunst in München. "Man setzt sich irgendwo am Ende der Welt mit einem Bauern oder Fischer zusammen", sagt er, "und der erzählt dir Sagen aus dem 13. Jahrhundert." Die junge Generation wiederum, die mit dem isländischen Wirtschaftswunder, Wohlstand und Konsumkultur aufgewachsen ist, verbinde nun alte Tugenden mit neuem Selbstbewusstsein: "Wir leben eine Renaissance Islands."

Wer sich durch Reykjavík treiben lässt, kann dem nicht widersprechen. Im Sægreifinn, einem kleinen Laden am Hafen, gibt es delikate Hummersuppe aus Pappbechern und Kabeljauschaschlik vom Papierteller. Ein paar Häuser weiter im "Seafood Cellar" wird internationale Küche der Spitzenklasse mit asiatischem Flair serviert.

"Samstagabend ist Freitagabend II" - es geht weiter mit Aufgüssen und Originalen...

Unter dem "Hotel Centrum" steht man vor den Ausgrabungen der ersten Siedlung auf Island, die um 874 entstanden sein soll, hundert Meter weiter zeigt das Arts Museum mit Kunststoff verklebte Installationen und eine Plastik aus Neonröhren. Da sind Boutiquen mit Nobelmarken neben Antikshops und Secondhandläden, in denen alte Fuchspelzmäntel verkauft werden. Alt plus modern ist gleich einzigartig.

Wie bei der Künstlerin Kogga, die in der Tryggvagata Seevogeleier und Tongefäße mit Figuren, halb Mensch, halb Tier, bemalt. "Es kommt darauf an, was man sieht", sagt Kogga, "wir haben ein Sprichwort in Island, das heißt: Hvorki fuel ne fiskur" - weder Vogel noch Fisch, zu deutsch also: nicht Fisch, nicht Fleisch.

Wieder 2 Uhr 30, Samstagnacht. Wieder Zeit für ein Bier und eine Zigarette. Man könnte jetzt ins "Nasa" gehen, das früher mal eine Tanzhalle war und nun eine Legende unter den Nightclubs der Stadt. Oder ins "Rex" mit seinen Louis XV-Möbeln, Plüsch und üppigen Lüstern. Oder ins "Pravda", wo coole Kellner hinter einem Edelstahltresen mit hautengen T-Shirts coole Drinks servieren; sie herrschen über eine Eisbox, die so groß ist wie ein kleiner Gletscher.

Man könnte ins "Café Sólon" gehen, wo Jón Kari gern sitzt. Oder ins "Café Oliver", wo nach drei Uhr gelegentlich die Korken an die Decke fliegen und die Menschen auf den Tischen stehen. Oder ins "Kaffeebarinn", das in Helgasons "101 Reykjavík" zur ekstatischen K-Bar wird und dem Regisseur Kormakur gehört.

Aber man geht noch einmal ins "Domo". Die Bedienung aus dem "Seafood Cellar" ist da; der Galerist, der Helgasons Gemälde ausstellt, auch; und der Typ, der das Nordlicht verkaufen will. "Samstagabend ist Freitagabend II", lässt Helgason seinen Hlynur sagen, "Rimäjk. Nicht mehr originell." Dennoch wird aus einem Bier und einer Zigarette doch wieder eine Reise ans Ende der Nacht. Schwer zu erklären warum. Islands bekannteste Modedesignerin, Steinunn Sigurdsdottir, die in New York, Tokio und Italien gelebt und gearbeitet hat, sagt über Reykjavík: "Nirgendwo ist es so wie hier."

© SZ vom 6.6.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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