Süddeutsche Zeitung

Papua-Neuguinea:Stammestänze auf dem Fußballplatz

Papua-Neuguinea ist Gastgeber des Apec-Gipfels. Die Staatschefs tagen in einem Land mit einer archaischen Parallelwelt - und 839 Sprachen.

Von Jutta Pilgram

Früher war John Bee Tereo in dunkle Geschäfte verwickelt und lebte in ständiger Angst. Heute ist er ein freundlicher Mann von 42 Jahren, der einen Kleinbus steuert und in seinem Laden bunte T-Shirts verkauft. Doch wenn Gäste ihn fragen, ob er sie mit dem Bus auf einen Hügel am Stadtrand von Goroka fahren kann, dann zögert er lange. Die eine Route ist zu gefährlich, die andere ist ihm nicht geheuer.

Tereo spricht Englisch, nutzt eine Dating-Plattform im Internet und ist wie fast alle Menschen in Papua-Neuguinea Mitglied einer christlichen Kirche. An Schwarze Magie und an Wunderheiler glaubt er trotzdem. Gegen Rückenschmerzen helfen Kräuter, vor Schwangerschaft bewahrt Baumrinde, davon ist er überzeugt. Sein Urgroßvater, erzählt er, aß noch Menschenfleisch, er kochte es im Bambusrohr.

John Bee Tereo kann sich in beiden Welten bewegen: in der modernen Hauptstadt Port Moresby, in der an diesem Wochenende der Apec-Gipfel stattfindet. Erwartet werden dazu die Regierungschefs von 21 Pazifik-Anrainerstaaten, in denen fast die Hälfte der Weltbevölkerung lebt. Und er kennt sich aus im verwunschenen Hochland von Papua-Neuguinea, wo jedes Jahr im Herbst der große "Goroka Sing Sing" veranstaltet wird, ein Festival, bei dem die Mitglieder von 156 Stämmen ihre traditionellen Tänze und Masken vorführen.

Schwarz-rot-gold dominiert, es sind auch die Nationalfarben von Papua-Neuguinea

Sie kommen aus dem unwegsamen Umland der Provinzstadt Goroka. Viele Dörfer sind schwer zu erreichen. Bis vor wenigen Jahrzehnten lebten die Menschen hier abgeschnitten vom Rest der Welt. Jetzt stehen die Teilnehmer gedrängt auf den Ladeflächen der Lastwagen, die in Kolonnen über die staubige Hauptstraße von Goroka fahren, um irgendwo Halt zu machen für die Vorbereitung ihres großen Auftritts.

Hinter einer Wellblechhütte haben sich einige Frauen des Melpa-Stammes aus der Nähe von Mount Hagen niedergelassen. Sie sind barfuß und barbusig, tragen nur Muschelketten, Bambuswedel und Fellstücke. Je weniger westliche Kleidung, umso besser die Bewertung der Festival-Jury. Die Frauen helfen sich gegenseitig beim Anlegen des Kopfschmucks. In einem abgewetzten Koffer liegen Federn und Blätter, sorgfältig zwischen die Seiten von Schulheften gepresst. Jede Feder wird einzeln in Mütze und Stirnband gesteckt. Das Prozedere dauert fast drei Stunden.

Die Menschen sind in Scharen unterwegs zum Fußballplatz. Wer nicht zu einer Tanzgruppe gehört, hat sich wenigstens eine bunte Fahne ins Haar gesteckt. Schwarz-Rot-Gold dominiert, es sind die Nationalfarben von Papua-Neuguinea, denn die Goroka-Show fällt mit dem Unabhängigkeitstag zusammen. 1975 hat sich das Land aus dem australischen Protektorat befreit, früher war die Nordhälfte deutsche Kolonie, die Südhälfte britisch. Daran erinnern noch heute Ortsnamen wie Annaberg, Marienberg oder Finschhafen an der Bismarcksee.

Das Festival ist eine Erfindung der Australier. In den Fünfzigerjahren hatten sie die Idee, eine gemeinsame Feier könnte die kriegerischen Stämme im Hochland befrieden, die besten Gruppen sollten prämiert werden. Doch der Streit um die ersten Plätze führte erst recht zu blutigen Kämpfen. Seit fünf Jahren bekommen alle teilnehmenden Gruppen dieselbe Prämie.

Dunkle Wolken hängen über dem Fußballfeld. Bis zum Mittag füllt sich der Platz mit einigen Tausend Menschen. Keine Gruppe ähnelt der anderen: Manche sind wie Skelette bemalt, andere tragen riesige Boote aus Bast und Federn auf dem Kopf. Die "Mudmen" haben sich Tonmasken über den Kopf gestülpt und lange Bambuskrallen an die Finger gesteckt. Eine Männergruppe trägt Penisköcher aus Kalebassen-Rohr, alte Frauen sitzen mit geschlossenen Augen auf der Wiese, wie erschöpfte Vögel balancieren sie den gewaltigen Federschmuck auf dem Kopf.

Touristen, fast alle in moskitoabweisender Safarikleidung, laufen mit vorgestreckter Kamera durch das Getümmel. Es ist nicht leicht, die Bandenwerbung am Spielfeldrand auszublenden. Immer sind da die knalligen Schriftzüge des lokalen Mobilfunkanbieters im Hintergrund, die das spektakuläre Motiv eines authentischen Zeremoniells verderben. Denn eigentlich gehören die Maskentänze nicht ins Fußballstadion, sondern auf den Dorfplatz. Dort haben sie bis heute bei jedem Stammesritual und bei jeder Familienfeier ihre Berechtigung.

Die traditionelle Kostümierung ist keine Sache der Alten. Auch die Jungen tragen die Masken mit Stolz. Sie kombinieren die überlieferten Muster mit modernen Elementen. Ben Alphonse ist 16 Jahre alt, er hat sich wie die Comicfigur "Joker" geschminkt, seine Freunde tragen Rastamützen und Shirts im Batman-Stil. Fürs Selfie stellen sie sich auf und gestikulieren wie Rapper. Am liebsten hören sie Eminem, auf Platz eins der Hitparade ist allerdings das deutsche Achtzigerjahre-Duo Modern Talking. Alphonse ist stolz auf sein Land. "800 Sprachen", sagt er, "das gibt es sonst nirgendwo." Er selbst spricht drei Sprachen, doch die Gesänge der Tanzgruppe nebenan versteht er nicht. "Sie kommen aus einem anderen Tal."

Papua-Neuguinea ist das Land mit der größten Sprachenvielfalt der Welt. In der zerklüfteten Gebirgslandschaft haben sich isoliert voneinander 839 Sprachen entwickelt, teils so verschieden wie Arabisch und Chinesisch. Von den acht Millionen Einwohnern sprechen im Durchschnitt nur jeweils 10 000 Personen dieselbe Sprache. Ein "Wantok" ist ein Mensch, der dieselbe Sprache spricht. Wantok kommt von "one talk" und bezeichnet das Prinzip, nach dem das Leben in Papua-Neuguinea funktioniert: Ein Wantok kann sich hundertprozentig auf seine Gruppe verlassen, er muss sich ihr aber auch völlig unterordnen. Früher war das überlebensnotwendig, heute führt es zu Zwang und Vetternwirtschaft, sodass Kritiker die Demokratie in Papua-Neuguinea eine "Wantokratie" nennen.

Port Moresby ist wahrscheinlich die einzige Hauptstadt der Welt, die keine Straße mit dem Rest des Landes verbindet. Getrennt durch schroffe Gebirgsketten von allen anderen Orten ist sie wie ein Fremdkörper in einem Land, in dem Steinzeit und Moderne besonders heftig aufeinanderprallen. Es könnte eine schöne Stadt sein, malerisch auf einer Landzunge gelegen, vom türkisfarbenen Korallenmeer umgeben und von tropischem Grün durchzogen.

Ein glitzerndes Einkaufszentrum, nagelneue Regierungsbauten und ein paar Hotels liegen über die Hügel verstreut. Auf den breiten Straßen verkehren schwere Geländewagen, kein einziges Moped. Auf den zweiten Blick sind die Hochhäuser verrammelt, die Fahrzeuge gepanzert; es gibt Slums am Stadtrand und am Straßenrand hocken Menschen, die gehäkelte Beutel und Betelnüsse verkaufen. Zu Fuß gehen sollte man nicht in dieser Stadt, zu viele Raubüberfalle und Entführungen. Auf einer Liste der lebenswertesten Städte der Welt, die das Magazin Economist jedes Jahr veröffentlicht, rangiert Port Moresby auf dem fünftletzten Platz.

Die Regierung hält 40 Maseratis für die Gäste bereit. Dabei gibt es kaum Straßen auf der Insel

Ausgerechnet hier treffen sich die Staatschefs zum Gipfel der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft. Weil es nicht genügend Hotels für die 6000 Apec-Gäste gibt, liegen mehrere Kreuzfahrtschiffe vor der Küste. Die Regierung hat 40 Maseratis und drei Bentleys einschiffen lassen, um die Gäste zu chauffieren. Dabei gibt es außerhalb der Stadt fast keine Straßen. Im ganzen Land protestierten die Menschen gegen den Autokauf und legten ihre Arbeit nieder. Denn trotz des Exports von Gas, Öl und Gold, trotz fruchtbarer Böden und einer reichen Kultur ist Papua-Neuguinea das ärmste Land der Apec-Gruppe.

Der Franzose Philippe Gigliotti kam vor 20 Jahren als Backpacker nach Port Moresby. "Auf eigene Faust kannst du dieses Land nicht bereisen", sagt er, "es sei denn, du hast sehr viel Zeit, lässt dich einladen und von Dorf zu Dorf weiterreichen." Er blieb neun Monate. Heute organisiert er Studienreisen auf die Insel. Drei Viertel seiner Kunden sind abenteuerlustige Pensionäre. Denn wer das Land kennenlernen will, braucht Geld. Abgesehen von einigen Tauchhotels an den Küsten gibt es keine touristische Infrastruktur. Die meisten Reisenden lassen sich daher maßgeschneiderte Touren zusammenstellen. Andreas Comrink, der solche Fahrten organisiert, sagt: "Es kommen vier Gruppen: die ethnologisch Interessierten, die Taucher, die Vogelliebhaber. Und die Leute, die sonst schon überall waren."

Nur ungefähr 2000 Europäer, davon 680 Deutsche, haben im vergangenen Jahr Papua-Neuguinea besucht. Trotzdem ist der Tourismus die große Hoffnung des Landes, es will zum Geheimtipp für Ökotouristen werden. Denn es ist beides: ein Land von überwältigender Schönheit, mit wild zerklüfteten Gebirgen und intakten Korallenriffen, mit seltenen Vögeln, exotischen Pflanzen und den größten Schmetterlingen der Welt. Und gleichzeitig ist es eines der gewalttätigsten Länder der Welt, mit einer kriegerischen Kultur, in der Frauen als Hexen verbrannt und Dörfer angezündet werden - wegen der Blutrache.

Gefährlich sei das Reisen trotzdem nicht, findet Gigliotti. Auf seinen Touren durchs Hochland sei er mehrmals zwischen die Fronten eines Stammeskriegs geraten. Die Kämpfe wurden kurz unterbrochen, freundliches Winken am Straßenrand, dann konnte er weiterfahren. Einen Grund für die Gewalttätigkeit vermutet er in der Sprachenvielfalt. "Bei Konflikten ist das Motto: erst kämpfen, dann reden", sagt er. "Doch für Touristen gilt das nicht. Sie gehören nicht zu dieser Welt."

Reiseinformationen

Anreise: Direktflug nach Singapur, von dort nach Port Moresby mit Air Niugini. Das Hochland von Papua-Neuguinea erreicht man nur mit dem Flugzeug. Die nationalen Fluggesellschaften PNG Air und Air Niugini fliegen täglich hin (Gesamtpreis ab 1500 Euro).

Unterkunft: Das luxuriöse Airways Hotel liegt direkt am Flughafen in Port Moresby, DZ ab 203 Euro, www.airways.com.pg; preiswerter ist das Holiday Inn Express, DZ ab 135 Euro. In Goroka: Bird of Paradise, DZ ab 101 Euro, www.coralseahotels.com.pg

Festivals: Die nächste Goroka-Show findet am 15./16. September 2019 statt, www.gorokaevents.com. Ähnliche Festivals gibt es in Rabaul (Juli), Mount Hagen, Wabag, am Sepik-Fluss (alle im August) und in Lae (Oktober).

Zum Land: www.papuanewguinea.travel

Hinweis

Die Recherchereise für diesen Beitrag wurde zum Teil unterstützt von Veranstaltern, Hotels, Fluglinien und/oder Tourismus-Agenturen.

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SZ vom 15.11.2018/edi
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