Der Bahnhof von Panama-Stadt ist nicht gerade imposant. Ein Flachbau, weiß getüncht, mit weit überstehendem Dach. Es spendet Schatten - schon morgens um kurz vor sieben brennt die Sonne vom Himmel. Auf dem einzigen Gleis wartet der Zug der Panama Canal Railways: eine alte Diesellok mit fünf Waggons, gelb mit roten und schwarzen Längsstreifen. Die Bahn ist ein Überbleibsel aus der Zeit vor der Jahrtausendwende, als der Kanal noch von den USA betrieben wurde. Sie fährt von Panama-Stadt nach Colón an der Karibikküste. Ein Luxuszug, die Bänke sind aus Edelholz, die Sitzflächen aus Leder.
Entspannt lehnt sich Julián Chang zurück, ein großer, sehniger Mann in Flipflops und Shorts, während der Zug sich in Bewegung setzt. Hinter der Schleuse von Miraflores, der pazifischen Einfahrt in den Kanal, beginnt der Urwald. Die Luft ist feucht und frisch. Haushohe Farne säumen den Gleiskörper, dazwischen Jacaranda-Bäume mit ihren lilafarbenen Blüten.
Nach einer halben Stunde Fahrt ist der Lago Gatún erreicht, durch den der Kanal verläuft. Wohin man blickt: Wasser. Und Inseln, manche nicht größer als eine Tischtennisplatte, bei anderen sind deren Dimensionen mit bloßem Auge nicht zu erkennen. Aus dem Schatten einer dieser Inseln taucht ein Indiokanu auf. "Emberá", sagt Julián Chang.
"Sie bewegten sich meisterhaft in den Kronen der Bäume"
Die Emberá sind eines von vier indigenen Völkern Panamas. In den vergangenen sechs Jahren haben sich einzelne Gruppen auf den Inseln im Lago Gatún angesiedelt. In das älteste dieser Dörfer ist Julián Chang unterwegs. Als Historiker mit Lehrstuhl an der Universität von Panama-Stadt hat er zu Geschichte und Kultur der Emberá geforscht, seit seiner Pensionierung lebt er mit ihnen. "Weil das Leben bei ihnen noch natürlich ist. Um acht, neun Uhr abends hörst du keinen Laut mehr. Du schläfst ruhig, und wenn du aufwachst, pflückst du dir ein paar Früchte zum Frühstück. Wo findet man das denn sonst?"
Ursprünglich kommen die Emberá aus den Tiefen des Amazonas in Brasilien. Ende des 17. Jahrhunderts sind sie nach Norden emigriert, in den Darién, das Hügelland in Panama an der Grenze zu Kolumbien. "Sie bewegten sich meisterhaft in den Kronen der Bäume und konnten geräuschlos marschieren", erzählt Julián Chang, "vor allem aber kämpften sie mit Pfeilgift, das sie aus Blasrohren verschossen." Das hätten sich die Spanier zunutze gemacht in ihren Kämpfen gegen die Kuna, den anderen großen Indianerstamm Panamas. "An der Seite der Kolonialherren haben die Emberá eine westlich geprägte Kultur entwickelt."
Die Emberá sind zugänglicher als die anderen Indianerstämme Panamas, seit jeher treiben sie Handel. Ob ihnen die Offenheit genutzt hat, darüber lässt sich streiten. Die weniger assimilierten Kuna haben Anfang der 1950er-Jahre eine Teilautonomie für ihr Stammesgebiete erstritten. Den Emberá ist das erst in den 1980erJahren gelungen - da waren sie schon über weite Teile des Landes verstreut.
Von Colón, das nur aus Freihafen und Lagerhallen zu bestehen scheint, geht es mit dem Taxi weiter. Vorbei an verschlafenen Dörfern, durch eine von Wasseradern durchzogene Hügellandschaft. Unter einer Brücke über den Río Chagres warten zwei Emberá, nackt bis auf einen rot-blau gestreiften Lendenschurz. Sie grüßen mit einem kaum wahrnehmbaren Kopfnicken. Der größere der beiden wirft den Außenbordmotor seines Kanus an, der kleinere platziert sich als Lotse am Bug.
Zwanzig Minuten dauert die Fahrt durch die Seitenarme des Lago Gatún. Dann steuert das Boot auf eine Insel zu. Strohdächer tauchen zwischen den Bäumen auf, Musik erklingt. Ein traditionelles Begrüßungsritual der Emberá, erklärt Julián Chang. Für Besucher, aber auch für Heimkehrer wie ihn.
Die Musiker warten an einem weit durchs Schilf ins Wasser ragenden Steg. Zwei Trommler, zwei Mann an den Rasseln, einer an der Blockflöte. Der sechste schlägt den ausgehöhlten Panzer einer Schildkröte. Hinter ihnen ein mit Stroh gedeckter Pavillon, das Gemeinschaftszentrum. Darin sitzen Männer und Frauen, alle in rot und blau gestreifter Tracht. Sie sticken bunte Armbänder, schnitzen Tiere aus Holz und bemalen sie. Kunsthandwerk, wie es Indianer auf den Märkten im Casco Viejo verkaufen, der Altstadt von Panama-Stadt.
Aufstellen zum Foto, dann ab in den Andenkenladen - diese Indio-Show gibt es hier nicht
Julián Chang stellt den Häuptling vor. Der heißt Atilano Flaco, ist 28 Jahre jung, noch unverheiratet - und sollte besser als Geschäftsführer bezeichnet werden, denn diese Gemeinschaft der Emberá firmiert als Sociedad Anónima, als Aktiengesellschaft, an der jede der hier lebenden 45 Personen die gleichen Anteile hält. Das Stammesgebiet der Emberá haben Flaco und seine Leute vor sechs Jahren verlassen. Aus wirtschaftlichen Gründen - der Darién ist das Armenhaus Panamas. Aber auch, weil jenseits der Grenze, in Kolumbien, die FARC herrscht. Die marxistische Rebellenarmee ist längst eine Macht im Drogen- und Entführungsgeschäft und operiert auch auf panamaischem Boden.
Die Insel hat die Gruppe um Atilano Flaco gekauft. Insgesamt neun Hektar, zu wenig, um von Landwirtschaft allein zu leben. Und so widmen sie sich dem, was der Geschäftsführer "nachhaltigen Tourismus" nennt: Sie bieten Ausflüge in ihr Dorf an, halb-, ganz- und mehrtägig.
Auch andere Indianergruppen in Panama hängen vom Tourismus ab. Die Kuna betreiben auf drei ihrer Inseln kleine Ferienanlagen. Aber nur wenige Familien profitieren von den Besuchern. Die Lebensumstände auf den anderen Inseln sind prekär, vor allem das Müllproblem ist nicht gelöst.
Die Emberá im Darién leben von Kreuzfahrtschiffen, die Ausflüge in die Dörfer anbieten: musikalische Begrüßung, ein paar Fotos, und dann der Ausgang, wie in vielen Museen üblich, durch den Andenkenladen. Für Atilano Flaco kam beides nicht infrage. Die Insel seines Clans ist klein und entlegen genug, um nach den Stammestraditionen zu leben, und gleichzeitig so zugänglich, dass etwas vom Tourismus abfällt, den der Kanal anzieht.
Die Einnahmen, das ist die Grundidee, kommen allen Dorfbewohnern zugute. Für jede Tätigkeit im Dorf, ob als Fischer oder Musiker, als Kunsthandwerker oder Köchin, wird dasselbe monatliche Gehalt gezahlt, zurzeit 300 Dollar, umgerechnet 220 Euro. Wer will, kann mehrere Aufgaben übernehmen und sein Einkommen dadurch aufbessern. Der staatliche Mindestlohn in Panama beträgt 400 Dollar - mit zwei Jobs liegt man schon darüber.
Don Alípio, Musiker und Medizinmann, führt durchs Dorf. 17 Familien, jede hat ihr eigenes, strohgedecktes Haus. Die Häuser gruppieren sich auf einem Hügel. Sie stehen auf Stelzen - nach heftigem Regen kann der Wasserspiegel des Sees um mehr als einen Meter steigen - und sind an den Seiten offen. Geschlafen wird auf Hängematten, alle liegen im selben Raum. Hinter den Häusern ist die Plantage, dort bauen die Emberá Bananen und Yucca an.
Und der Kräutergarten. Don Alípio reißt ein Blatt ab, es ist vierzackig, mit rauer Oberfläche. "Dieses Kraut nennen wir Borjó. Wir machen Schnaps draus oder Tee, wenn jemand Probleme mit den Nieren hat." Die Pflanzen sind alle aus dem Darién, Don Alípio hat sie hier kultiviert. Schon sein Vater war Medizinmann, die Aufgabe ist wichtig, findet er, denn wenn jemand im Dorf krank wird, ist Hilfe fern. Das nächste Krankenhaus befindet sich in Colón, die nächste Poliklinik in Panama-Stadt.
"Hier ist es doch viel besser"
Auf der anderen Seite des Hügels steht die Schule, auch sie strohgedeckt, ohne Seitenwände. Drinnen, oder besser: unter dem Dach ein Dutzend Schüler aller Altersklassen. Eine Dorfschule, wie sie typisch ist für Mittel- und Südamerika. Die Kinder sind nicht nur aus diesem Dorf, sondern auch aus anderen, neueren Siedlungen der Emberá im Lago Gatún. Acht weitere Gruppen sind dem Modell dieses Dorfes gefolgt.
Abendessen im Pavillon, dem Gemeinschaftszentrum. Es gibt gegrillten Siluro, Katzenwels mit gebackenen Bananen. Die Dorfbewohner essen gemeinsam, wie jeden Abend. "So schön es hier ist", sinniert Atilano Flaco, "manchmal vermisse ich den Darién." Don Alípio widerspricht: "Hier ist es doch viel besser. Im Darién hast du nie Ruhe vor den Drogenschmugglern. Sie bitten dich um einen Gefallen: Kannst Du dieses Paket da und dorthin bringen? Wenn du das einmal akzeptierst, kommen sie immer wieder. Und wenn du dann nicht mehr willst, bringen sie dich um."
Und so ist dieses Dorf der Emberá entstanden, ein Experiment. Von Indios, die ihr Schicksal in die Hand nehmen. 25 Familien mit 100 Personen sollen es einmal sein. Und natürlich hoffen sie, dass die jungen Leute zurückkehren, nachdem sie weiterführende Schulen in Panama-Stadt besucht haben, und dem Dorf neue Impulse geben.
Nach dem Abendessen spielen die Musiker zum Tanz auf. Wie in Zeitlupe wiegen die Frauen ihre Hüften, während die Männer sie umkreisen. Fackeln erleuchten den Pavillon, am Himmel funkeln die Sterne. So schön ist es am Panamakanal.