Schleswig-Holstein:Immer mit der Ruhe

Strandkörbe am Strand von Kühlungsborn an der Ostsee

Auf ein Sonnenbad im Strandkorb müssen die Touristen zwar verzichten - aber der Winterurlaub an der Ostsee boomt trotzdem.

(Foto: Ralf Wilken/Plainpicture)

Winterurlaub an der Ostsee ist so beliebt wie nie. Das liegt auch an neuen Angeboten für Touristen - die allerdings nicht jedem gefallen.

Von Thomas Hahn

Der Winter ist schwarz und rauscht. Vom Italiener in Scharbeutz geht es über die befestigten Dünen Richtung Haffkrug. Linker Hand liegt die Gemeinde, rechter Hand die Lübecker Bucht in umwehter, undurchdringlicher Nacht. In der Ferne sieht man die Lichter von Pelzerhaken. Aus der Dunkelheit schlagen träge die Wellen an den Strand. Und es ist, als fügten sich die Finsternis über der Ostsee, der Wind, das Geräusch der Wellen und die beleuchteten Häuser des Ortes zu einem großen, weiten Raum, in dem man sich besonders geborgen fühlen kann.

An Schleswig-Holsteins Ostseeküste hat der Winter andere Farben als in den Fantasien der Ski- und Rodelgesellschaft: blau, grau, braun, schwarz - kaum Schattierungen von Weiß. Mancher könnte deshalb sagen, der Winter sei ein Ausfall hier. Zu kalt zum Baden, zu warm für Schneelandschaften. Trotzdem: Er wird beliebter. Das kann man in Scharbeutz erleben, wenn man an einem beliebigen Februarfreitagabend in die Fenster gut besuchter Restaurants schaut. Und das kann Katja Lauritzen bestätigen, die als Geschäftsführerin des Vereins Ostsee-Holstein Tourismus neues Leben verzeichnet in Scharbeutz und Umgebung. Im Sommer ist ja immer viel los in den Ostseeorten, fast zu viel. Jetzt sind sie auch zu Zeiten gefragt, in denen sie früher Winterschlaf hielten.

Katja Lauritzen muss lachen, wenn sie an die Scharbeutzer Übernachtungsbetriebe von früher denkt. Urige Gaststätten waren das, für die in den Achtzigerjahren die Zeit stehen geblieben zu sein schien. Heute dagegen? Lichte Häuser mit geräumigen Zimmern überall sowie der eine oder andere gediegene Erholungspalast. Beim Kurpark ragt das Bayside Hotel auf, ein Vier-Sterne-Etablissement mit Wellnessbereich, Roof Bar und Night Club. Was ist passiert mit der deutschen Betulichkeit hier?

Die große Veränderung kam mit der Wende. 1989 war Scharbeutz ein beliebtes Seebad, das zuverlässig Steuergeld aus der Zonenrandförderung bekam. Als die Mauer fiel, war die Zonenrandförderung weg, und im Osten gab es neue Konkurrenz. Viel Geld floss in die Küste Mecklenburg-Vorpommerns, um dort den Anti-Charme der DDR zu vertreiben. Scharbeutz hingegen vertraute auf Bewährtes. "Man war ein bisschen bequem geworden", sagt André Rosinski, Vorstand der Tourismus-Agentur Lübecker Bucht. Gäste wanderten ab, das Image war schlecht. Nach der Jahrtausendwende musste sich was tun.

Damals verliefen noch Maschendrahtzäune in den Dünen, die Promenade war ein schnurgerader, mit Steinplatten gepflasterter Weg, daneben hatten vor allem Autos Platz. Am Strand beim Kurpark stand ein altes, schlecht laufendes Wellenbad. Die Gemeinde beschloss eine millionenschwere Generalüberholung. Die Landesregierung half, weil die Erneuerung nicht nur der Schönheit der Wasserkante diente, sondern auch dem Küstenschutz. Die Düne sollte wachsen, um das Land besser vor Sturmfluten zu schützen. Weil die öffentliche Hand sich engagierte, wurden auch private Geldgeber aufmerksam.

Und heute strahlt Scharbeutz eine elegante Gastlichkeit aus mit Hotels, Restaurants, geschwungener Promenade, ganzjährig geöffneten Läden. Wo einst das unrentable Wellenbad stand, erstrahlt jetzt besagtes Bayside Hotel. Es gibt Angebote wie Fackelwanderungen am Strand oder zeitweise eine Eisbahn. Allein in Scharbeutz ist die Zahl der Gäste seit 2012 von 100 000 auf 200 000 pro Jahr gestiegen. Der Winter ist nicht mehr die Stiefjahreszeit der Gegend: Tagungen finden statt, Tagesgäste kommen, Wellnessurlauber, Spaziergänger, die gerne den Wind spüren, und viele Hundebesitzer, weil die Strände in den kalten Monaten anders als im Sommer frei sind für Vierbeiner. Außerdem ist die sehenswerte Großstadt Lübeck nicht weit. Längst ziehen Nachbargemeinden nach, die Scharbeutz anfangs belächelt haben wegen seiner Schönheitsoperationen.

"Es wird nicht nur Hurra geschrien"

Aber der Fortschritt kommt mit Nebengeräuschen, denn lokale Befindlichkeiten sind wichtig an der Ostseeküste. "Die Bevölkerung wird sensibler im Umgang mit den Touristen", sagt Rosinski, "es wird nicht nur Hurra geschrien." Staus, höhere Preise, zu wenig Wohnraum sind der Preis des Erfolgs. Und wo sich Altes bis heute bewährt, wird der Wandel erst recht kritisch gesehen. Timmendorfer Strand zum Beispiel ist bei der Erneuerung weniger quirlig als der Nachbar Scharbeutz.

Lokale Eigenheiten müssen sichtbar bleiben neben den hingeklotzten Träumen der Geldvermehrer. Und zumindest an einem Ostseeufer ist sich nicht jeder sicher, ob die Entwicklung das richtige Maß hat. "Travemünde erfindet sich neu", meldet die örtliche Marketing-GmbH. Es entstehen 2500 neue Gästebetten für 200 Millionen Euro. Wenn der Ausbau 2020 vollzogen ist, wird der Lübecker Vorort etwa doppelt so vielen Urlaubern Platz bieten wie vor der Offensive. Passend? Unpassend?

Vom Bahnhof Scharbeutz geht ein Bus Richtung Travemünde. Aber es lohnt sich, schon in Brodten auszusteigen und die letzten Kilometer zu Fuß zu gehen. An den Grüns des Lübeck-Travemünder Golf-Klubs geht es vorbei. Bald öffnet sich der Wald wie ein Vorhang und gibt den Blick frei auf die Ostsee. Die Steilküste ist im Winter ein Ort des Friedens, und der Weg führt direkt zur Promenade des alten Seebades, in dem mancher den Aufbruch in eine gesichtslose Zukunft befürchtet.

Travemünde hat das höchste Leuchtfeuer Europas: Der 119 Meter hohe Wolkenkratzer des Maritim-Strandhotels bekam es in den Siebzigerjahren aufgesetzt, weil es alle anderen Gebäude überragte, natürlich auch den historischen Leuchtturm, einen der ältesten Deutschlands. Es gibt alte Fischerhäuser zu sehen, mondäne Kurhotels, die Aquarien der Ostseestation, den Viermaster Passat von 1911, die Kreuzfahrtschiffe auf ihrem Weg zum Skandinavienkai. Das kann nicht jeder Ort bieten.

Trotzdem kann man Siegbert Bruders verstehen, wenn er sagt: "Travemünde ist ein beliebiger Ort geworden."

Bruders ist der Vorsitzende der Bürgerinitiative behutsame Priwallentwicklung. Der Priwall ist eine Halbinsel an der Travemündung, deren Westufer direkt gegenüber der Hauptpromenade liegt. 1500 Menschen leben auf dem Priwall, Teile davon stehen unter Naturschutz, und genau hier lässt der dänische Investor Sven Hollesen einen Teil des Travemünder Gästebettenwunders entstehen. Seit 2008 kämpft die Bürgerinitiative dagegen an. Vor drei Jahren war die Klage schon geschrieben, die der Landschaftspflegeverein Dummersdorfer Ufer mit Geld der Initiative umsetzen sollte, weil Bürgerinitiativen selbst nicht klagen dürfen. Aber der Geschäftsführer des Vereins machte einen Rückzieher. Hollesen konnte sein Werk beginnen, das nun halbfertig am Priwall-Ufer aufragt: helle Mehrgeschoss-Kästen, ein Parkhaus. Bald sollen hier Restaurant- und Übernachtungsgäste die neue Promenade entlangspazieren.

Manche Einheimische sind weggezogen, andere erwarten Hollesens nächste Vorstöße. Ein zweiter Bauabschnitt ist an der Kohlenhofspitze geplant. Aber Travemündes Ortsrat ist dagegen. Und Bruders kann versprechen, dass der Bürgerinitiative nicht noch einmal eine Klage entgleitet.

Fortschrittsfragen beschäftigen die Leute an der Ostsee. Im Fehmarnbelt plant Dänemark den längsten Absenktunnel der Welt, damit ab 2028 Autos und Züge schneller von Skandinavien nach Deutschland kommen. Dafür soll die Bahnstrecke durch Ostholstein ausgebaut werden, die Meinungen dazu sind geteilt. Bringt die neue Strecke mehr Gäste oder mehr Lärm? Leiden die Orte in der Bauphase? Laut einem Gutachten bringt der Tunnel dem Tourismus jährlich sechs Millionen Euro. "Gemessen an dem, was wir hier verdienen, ist das nicht viel", sagt Katja Lauritzen nüchtern.

Sie jubelt nicht, sie schimpft nicht. Andere Fragen sind gerade vordringlicher. In welchen Orten braucht die Gastronomie noch Nachhilfe? Und in welchen ist es genug des Wandels? Das Spiel mit dem Fortschritt wirkt wie ein Drahtseilakt. Und gerade mit Blick auf die kältere Jahreszeit möchte sich niemand an der Küste verheben. Wenn der Wintertourismus zu stark würde, wäre wohl bald die Ruhe weg, die jetzt den Erfolg ausmacht.

Reiseinformationen

Anreise: Mit dem Auto gut über die A1. Vom Lübecker Hauptbahnhof gehen stündlich Züge nach Travemünde, Timmendorfer Strand und Scharbeutz.

Unterkunft: Das Hotel Meerzeit in Haffkrug bietet unaufdringlichen Komfort ab 39 Euro (www.hotel-meerzeit.de). Das Bayside Hotel Scharbeutz bedient Vier-Sterne-Asprüche ab 99 Euro (www.bayside.de).

Ausflüge: Die Ostseestation Travemünde gewährt Einblicke in Fauna und Flora der Ostsee (www.ostseestation-travemuende.de). Im Winter spielt der Klub CET im Eisstadion von Timmendorfer Strand, um an die ereignisreiche Eishockey-Geschichte des Ortes anzuknüpfen (www.cet-timmendorfer-strand.de).

Weitere Auskünfte: www.sh-tourismus.de

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