Ortsporträt:Yin und Yak

Ortsporträt: Berühmtes Aushängeschild: Messners Silhouette vor seinem Bauernhof mit angeschlossener Gemäldegalerie in Sulden.

Berühmtes Aushängeschild: Messners Silhouette vor seinem Bauernhof mit angeschlossener Gemäldegalerie in Sulden.

(Foto: Hans Gasser)

Sulden am Ortler ist nicht nur wegen seiner hohen Lage und der umliegenden Gletscher besonders. Es gibt im Dorf auch außergewöhnliche Charaktere. Und manchmal wandert hier die deutsche Kanzlerin.

Von Hans Gasser

Der Aufbruch muss verschoben werden. "Der Schnee liegt noch meterhoch vor der Hütte", sagt Martin Reinstadler, der an diesem strahlend schönen Vormittag Ende Mai gerade mit Skiern von der Düsseldorfer Hütte herunterkommt. Herunter ist hier allerdings relativ, denn sein Zuhause ist Sulden, ein Ort, der auf 1900 Meter liegt. Zusammen mit seiner Frau Veronika bewirtschaftet er im Sommer in fünfter Generation die auf rund 2700 Meter gelegene Düsseldorfer Hütte, von der man einen fantastischen Blick auf Ortler, Zebrù und Königsspitze hat. "Wir wollten eigentlich zu Pfingsten aufsperren, aber das wird jetzt nichts", sagt Veronika Reinstadler, das Wetter war diesen Frühling zu schlecht, es hat im Mai sogar im Dorf noch geschneit.

Die 34-Jährige kommt, anders als ihr Mann, nicht aus Sulden, sondern aus einem Talort unten im warmen Vinschgau. "Man muss sich an die Höhe hier schon gewöhnen und an das Wetter", sagt sie. Und an die Leute? "Wenn man sich in den Vereinen engagiert, wird man auch als Auswärtige schnell aufgenommen." Der Ort, so erzählt sie, habe "ein bisschen mit der Abwanderung der Jungen" zu kämpfen. Viele studieren und bleiben weg oder arbeiten in Hotels im Tal. "Doch in letzter Zeit kommen auch einige wieder zurück und übernehmen die Betriebe der Eltern." Sie findet das gut, die Grundschule habe immerhin wieder 15 Kinder, der Kindergarten fast ebenso viele, und sie freut sich schon auf die fast viermonatige Saison oben im Hochgebirge, auch wenn die Arbeitstage von fünf Uhr früh bis abends um elf dauern.

Sulden, das ist eine Gemeinschaft von etwa 360 Menschen, von denen viele, überspitzt gesagt, halbnomadisch leben. Die lange Winter- und die kurze Sommersaison bestimmen den Rhythmus des Ortes, der sich lang hinstreckt über das von den höchsten Bergen der Ostalpen eingerahmte Hochtal; im Frühling und Herbst sind viele unten im Tal, wo sie Zweitwohnungen, manchmal Zweitjobs haben. Auf knapp 300 000 Übernachtungen bringt es der Ort jährlich, zwei Drittel davon in der von November bis Mai dauernden Wintersaison, wenn man in dem bis auf 3200 Meter reichenden Skigebiet mit seinen 40 Pistenkilometern hochalpin Ski fahren kann.

Ab Mitternacht backt er Brot, dann rennt er auf die Hütte, um Gäste auf Gipfel zu führen

Olaf Reinstadler, Dorfbäcker, Bergführer und Chef der Bergrettung, käme niemals in den Sinn, Sulden länger als unbedingt nötig zu verlassen, gar für Monate ins Tal zu ziehen. Im Sommer, sagt der ruhig und bärenstark wirkende Mann, würden seine Arbeitstage so aussehen: "Ich stehe um Mitternacht auf, bereite alles vor in der Bäckerei. Während mein Vater das Brot fertig backt, steige ich gegen vier schnell zu einer der Hütten auf, um dann mit den Gästen auf den Ortler oder die Königsspitze zu gehen." Weil er die Bäckerei hat und Familie, macht er nur Tagestouren. Andere Bergführer der "Alpinschule Ortler" seien praktisch den ganzen Sommer über im Hochgebirge und auf den Hütten. "Das ist anstrengend und nicht leicht mit Familie zu verbinden, deshalb fehlt es uns auch an Bergführer-Nachwuchs." In der Zwischensaison engagiert sich Reinstadler im Dorf: Er hat mit dem engsten Kern seiner Bergrettungsleute die "Kulturpromenade" eingerichtet, die am Hang mit schönen Ausblicken sechs Kilometer um Sulden herumführt und an vielen Stationen wichtige Momente und Persönlichkeiten der Geschichte dieses Bergsteigerortes aufgreift. Er hat den Spielplatz und das Bärenbad gebaut, eine Art Kneipp-Ort für Erwachsene und Wasserspielplatz für Kinder. Der liegt wunderschön in einem lichten Lärchenwald, durch den man die vereiste Nordwand der Königsspitze sieht.

All das soll dazu beitragen, den Sommer gegenüber dem Winter zu stärken, denn auch hier, unter dem immer noch eindrücklichen, aber leider nicht mehr ganz so ewigen Eis der Gletscher, hat man gemerkt, dass die Zahl der Skifahrer bestenfalls stagniert. 320 Kilometer Wanderwege gibt es im Ortlergebiet, dazu vier Berghütten, die man von Sulden aus erreichen kann.

Aber auch im Ort selbst, der aus einer Handvoll weit auseinanderliegender Bauernhöfe entstanden ist und deshalb keinen richtigen Ortskern hat, gibt es einiges zu entdecken. Die alte Kirche aus dem 16. Jahrhundert, auf deren Friedhof der charismatische Altpfarrer Josef Hurton, lange Zeit Chef der Bergrettung, ein Messingbuch mit den Namen und Schicksalsbergen der hier tödlich Verunglückten aufgestellt hat. Es hat viele Seiten. Wer weiter durch das Dorf an den vielen Hotels vorbei über den Suldenbach spaziert und links abbiegt, kommt nach kurzer Zeit zu einem schönen alten Bauernhof, vor dem sich die in schwarzes Metall gestanzten Umrisse eines weltbekannten, haarumwölkten Gesichts gegen den dahinter aufragenden Ortler abheben: Reinhold Messner.

Der Ex-Extrembergsteiger, Buchautor und Museumsmacher hat schon 1980 auf Vermittlung seines Freundes Paul Hanny (siehe Porträt nebenan) den alten, halb verfallenen Bauernhof gekauft. Nach und nach hat er ihn von dem aus Sulden stammenden Architekten Arnold Gapp sanieren und mit einem Zubau versehen lassen, der den Sherpa-Langhäusern nachempfunden ist. In den schönen Holzstuben des 500 Jahre alten Bauernhauses ist das Restaurant Yak & Yeti untergebracht, in dem es unter anderem das Fleisch der imposanten Yaks zu essen gibt, die rundherum grasen. Sie weiden auch auf dem begrünten Dach des nebenan errichteten Messner-Museums "Ortles", das ebenfalls der Architekt Gapp wie eine Gletscherspalte aus Sichtbeton halb in die Erde hineingebaut hat. Darin ist vor allem Messners außergewöhnliche Bildersammlung zum Thema Eis und Schnee zu sehen, mit Gemälden des Bergmalers E. T. Compton genauso wie Auftragswerken zeitgenössischer Künstler wie Bjørn Pierri Enevoldsen oder Jörg Hofer. Der kundige, aus dem Ort stammende Museumskurator Robert Eberhöfer zeigt bei Führungen aber gerne auch Artefakte von Polexpeditionen, so etwa das Fernglas Shackletons, Messners eigene Expeditionsausrüstung sowie ein Präparat des Yeti, samt der dazugehörigen Geschichte. Mit 12 000 Besuchern im Jahr ist das Museum ein Touristenmagnet erster Güte für einen so abgelegenen Ort. "95 Prozent der Museumsgäste denken, dass Messner aus Sulden stammt", sagt Eberhöfer. Und irgendwie scheint er hier auch besser herzupassen als in das liebliche Villnösstal, wo er aufgewachsen ist.

"Diskretion!", heißt es, wenn die Rede auf Merkel kommt. Aber einer sagt dann doch was

Sulden hat dem in Südtirol nicht ganz so beliebten Messner also einiges zu verdanken. Dazu zählt wohl auch, dass die deutsche Kanzlerin schon seit vielen Jahren immer wieder hier Wanderurlaub macht. Bei einem Abendessen in illustrem Kreis soll Messners Frau die damalige CDU-Vorsitzende dazu überredet haben, statt auf die Seiseralm nach Sulden zu kommen. Vergangenes Jahr war sie nicht da, und ob sie im kommenden Sommer kommt, kann oder will keiner im Dorf sagen. Der Bergführer Olaf Reinstadler nicht, der sie schon öfter auf hohe Berge geführt hat und von ihrem Willen beeindruckt war. Arnold Gapp nicht, in dessen unprätentiösem, aber stilvollen 70er-Jahre-Hotel Marlet sie immer wohnt. "Diskretion!", heißt es.

Nur Walter Reinstadler, der alte Hüttenwirt der Düsseldorfer Hütte, auf der Merkel immer wieder einkehrt, lässt sich etwas entlocken. Sie mache mit den Leibwächtern nur kurz Rast auf der Bank vor der Hütte, er habe schon öfter mit ihr geredet. Auf die Frage, wie Merkel denn so sei, antwortet er im Dialekt mit dem größtmöglichen Kompliment: "Ein einfaches Mensch."

Hinweis

Die Recherchereise für diesen Beitrag wurde zum Teil unterstützt von Veranstaltern, Hotels, Fluglinien und/oder Tourismus-Agenturen.

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