Süddeutsche Zeitung

Reisebuch über einen Eisenbahn-Mythos:Der König der Nachtzüge

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Georges Nagelmackers hat den Orient-Express erfunden. Die ersten Passagiere mussten eine Pistole im Gepäck haben - aber einen Mord gab es an Bord wohl nie.

Rezension von Christiane Schlötzer

Sie nannten ihn den "Zug der Träume", verfolgt "vom Neid derer, die ihm nur nachwinken". Ein Märchen auf Schienen. "Ich liebe seinen Rhythmus, Allegro con fuoco zu Anfang, das Schütteln und Rattern in der wilden Hast", schwärmte Agatha Christie und setzte ihrer Liebe zur Schiene ein literarisches Denkmal: "Mord im Orient-Express". Höchst behagliches Gruseln. Der Roman erscheint 1934, der legendäre Luxuszug verbindet da bereits seit einem halben Jahrhundert Europa mit Konstantinopel, dem heutigen Istanbul.

Der Mann, der diesen Traum bereits im Postkutschenzeitalter aufs Gleis setzte, steht bis heute im Schatten seiner vielen illustren Fahrgäste, die den Mythos nährten. Georges Nagelmackers wird 1845 in der belgischen Stadt Lüttich in eine wohlhabende Bankiersfamilie hineingeboren. Zwei Jahre zuvor ist zwischen Lüttich und Aachen die weltweit erste grenzüberschreitende Bahnstrecke eröffnet worden. Georges begeistert sich früh für die dampfgetriebenen Ungetüme, bald träumt er sich weg aus der Enge seiner konservativen Familie. Mit 18 beginnt er ein Technikstudium, der Vater würde lieber einen Banker aus ihm machen.

Als sich der junge Nagelmackers dann noch in eine deutlich ältere emanzipierte Cousine verliebt, schickt der Vater ihn auf Reisen nach Amerika, in der Hoffnung, die Entfernung möge den Sohn von seiner verrückten Liebe kurieren. Die Medizin wirkt, aber George findet in den USA eine andere, lebenslange Passion: Nachtzüge! Er bewundert den amerikanischen Eisenbahn-Pionier Pullman, der seine Waggons als "Hotels auf Schienen" anpreist. Dem jungen Technikfan imponieren vor allem die Drehgestelle, die Pullmans Waggons in den Kurven Laufruhe geben.

Weniger angetan ist er von den Schlafgelegenheiten in den Zügen, nur von Vorhängen getrennte, dicht angeordnete Holzpritschen, auf denen man schnell die Cowboystiefel des Nachbarn im Gesicht hat. Amerika ist zu jener Zeit das Land von Aufbruch und Abenteuer. "Wer Geld verdienen wollte, handelte mit Kohle, Zucker, Immobilien oder investierte in die Eisenbahn", schreibt Gerhard J. Rekel in seiner jüngst erschienenen Biografie von Georges Nagelmackers. Wie aus einem jungen visionären Europäer "Monsieur Orient-Express" wird, ist eine atemberaubende Geschichte, die einer Agatha Christie würdig wäre - nur ohne Mord. Einen Mord soll es im Orient-Express auch nie gegeben haben.

1873 fahren die ersten Schlafwagen zwischen Wien und München

Zurück in der Heimat, fängt der 24-Jährige sofort an, seine Ideen mit der Kreativität eines Start-up-Unternehmers zu verfolgen. Der Ingenieur will in Europa eigene Schlafwagen bauen lassen, mit ungekannten Annehmlichkeiten: abschließbare Abteile, gepolsterte Liegen, Bettwäsche, Waschräume. In jedem Waggon soll ein Schlafwagenschaffner darauf achten, dass es den Gästen an nichts fehlt.

Der Jungunternehmer muss für seinen Traum 1001 Hindernisse aus dem Weg räumen: Er braucht risikobereite Geldgeber, höchstes diplomatisches Geschick und muss immer wieder Rückschläge einstecken. Mit 27 Jahren gründet der Bahnpionier seine Schlafwagengesellschaft Compagnie Internationale des Wagons-Lits, drei Jahre später, nach einer ersten Pleite, wird aus de Wagons-Lits des Wagons-Lits (CIWL), da gibt es schon 53 Schlafwagen. 1873 fahren die ersten auf der Strecke Wien-München, bald darauf von Ostende nach Köln und Berlin und von Paris nach Wien. Jetzt will sich der Eisenbahnenthusiast von nichts mehr aufhalten lassen, weder von der Cholera, die in Wien zur Weltausstellung 1873 noch einmal ausbricht, noch von Börsenkrächen.

Und Nagelmackers Sehnsucht reist immer weiter: Er will nach Konstantinopel. Unterwegs sollen seine Passagiere nicht nur gut schlafen, sondern auch in einem rollenden Restaurant edel speisen. Der detailversessene Erfinder entwirft für seinen ersten Speisewagen sogar das Geschirr. Vom Abenteuer Orient raten ihm fast alle ab. Er findet aber auch Verbündete: Baron Maurice de Hirsch, ein bayerischer Adeliger, hat bereits viel Geld in eine "Orient-Bahn" investiert. Anfangs gibt es nur Teilstrecken auf dem Balkan. Von Paris bis an den Bosporus gilt es, acht Grenzen zu überwinden und Verträge mit ebenso vielen Bahngesellschaften abzuschließen. Die verlangen Absurdes. So sollen die Schaffner die Uniform der jeweiligen Bahnverwaltung tragen, wenn der Orient-Express ihre Region durchquert: in Bayern hellblau, in Straßburg schwarz, in Württemberg grün. Was für eine Komödie!

Nagelmackers will alles erfüllen, wenn der Zug nur rollen darf. Am 4. Oktober 1883 steht der erste Orient-Express am Gare de l'Est in Paris zur Abfahrt bereit. Wegen Räuberbanden auf der Strecke sollen die Passagiere ihre Pistolen mitnehmen. Bei der Premierenfahrt werden sie auch kurz gebraucht. Ein Stück übers Schwarze Meer muss noch mit einem heruntergekommenen Schiff bewältigt werden, auf dem sich Hunderte Menschen mit ihren Habseligkeiten drängen. Doch beim ersten Anblick der "feenhaften" Stadt am Bosporus sind die mitreisenden Journalisten überzeugt, dass der Orient-Express ein Erfolg wird. So kommt es dann auch.

Die Strecke von Paris nach Istanbul schafft der Zug im Jahr 1889 in 67 Stunden

Ab 1889 schafft es Nagelmackers, die nun durchgehende Strecke von 3186 Kilometern ab Paris in 67 Stunden und 37 Minuten zu bewältigen, zwei Mal pro Woche. Von der Magie der Fernreise lassen sich Diplomaten und Dichter genauso anstecken wie Diebe und Drogenkuriere. Weil es am Bosporus lange nur schäbige Unterkünfte gibt, ein Schock für die Passagiere des Luxuszugs, lässt Nagelmackers 1894 das Pera Palace Hotel bauen, mit Sonnenuntergangsblick aufs Goldene Horn. Auch dieses Hotel wird zum Mythos. Ernest Hemingway und Alfred Hitchcock stiegen hier ab. Es existiert bis heute, aufs Feinste restauriert.

Nagelmackers baut weiter, Hotels in Paris, Peking, Kairo. Sein Zug nach Luxor trotzt der ägyptischen Hitze mit über Eis gekühlter Luftzirkulation. Schlafwagen über Moskau nach Peking erweisen sich dann als schwer verkäuflich, das vergrößert das sich abzeichnende Desaster: Der Bahnvisionär hat zu groß gedacht, die CIWL-Aktie stürzt ab. Noch einmal wird er Investoren finden, in allerletzter Minute, mit Hilfe des US-Präsidenten Theodore Roosevelt.

Der Kraftakt zerrt an Nagelmackers Nerven. Er stirbt 1905 mit nur 61 Jahren auf Schloss Villepreux in Frankreich. Das Schloss, unweit von Versailles, hat der "König der Züge" 1885 für sich, seinen einzigen Sohn René und seine aus der Schweiz stammende Frau Marguerite bauen lassen. Sein Sarg wird in einem "Train Spécial" zur Familiengruft bei Lüttich gefahren. Die CIWL überlebt, im Ersten Weltkrieg wird die Gesellschaft, die ein begeisterter Europäer erschaffen hat, unter deutsche Zwangsverwaltung gestellt. Später wird sie wieder selbständig und gerät im Zweiten Weltkrieg erneut vorübergehend unter deutsche Kuratel. 1957 führt sie, wieder eine Pioniertat, in Europa Autoreisezüge ein.

1977 fährt der letzte regelmäßige Orient-Express von Paris nach Istanbul. Die meisten Menschen wollen da lieber fliegen. Der Zug lohnt sich nicht mehr. Die Renaissance der Nachtzüge hat der Orient-Express nicht mehr erlebt. Einige der alten Waggons fahren aber immer noch als Nostalgie-Züge auf Teilen der berühmten Strecke.

Was bleibt von einem Eisenbahnmärchen? "Das Land Ihrer Träume liegt am Ende der Nacht." Schöner kann man es nicht sagen als in dieser Schlafwagenwerbung.

Gerhard J. Rekel: Monsieur Orient-Express. Wie es Georges Nagelmackers gelang, Welten zu verbinden. Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 2022, 288 Seiten. 25 Euro, E-Book 16,99 Euro.

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