Ötillö-Swimrun in Schweden:Von Insel zu Insel bis zur totalen Erschöpfung

Lesezeit: 4 Min.

Beim Ötillö-Swimrun durch die wunderschönen Schären bei Stockholm kommen nur die stärksten Teilnehmer ins Ziel. Aber alle in die Bar.

Von Thomas Becker

Kurz vor Schluss, als auf der kleinen Insel Jarnholmen das Ziel in Sicht kommt, schießt es André Hook durch den Kopf: "Mensch, letzte Schwimmstrecke! Die musst du jetzt aber noch mal genießen!" Klar ist diese Ecke des Stockholmer Schärengartens von berückender Schönheit, gerade wenn sie von der Spätsommersonne beschienen wird, die Meeresblau und Inselgrün so richtig zum Leuchten bringt. Und klar hat Hook nur noch eine lächerliche Schwimmstrecke von 100 Metern und erholsame drei Kilometer zu Fuß vor sich. Aber genießen? Wie soll das gehen, wenn man schon 72 Kilometer in Armen und Beinen hat?

Seit mehr als neun Stunden ist Hook unterwegs, in Laufschuhen und Neoprenanzug, als Teilnehmer der Ötillö-Swimrun-WM. Die Knie sind aufgeschlagen, die Erschöpfung ist eine totale. Und doch schwärmt der 37-Jährige im Ziel vom Schwimmen im elf Grad kalten Wasser. "Die Quallen sind so tief unter dir, dass du sie nicht berührst, aber siehst - wunderschön, wie Schwimmen im Aquarium."

Schweden
:Impressionen vom Ötillö-Swimrun

Nur die Stärksten kommen ans Ziel beim Schwimmrennen durch die Schären bei Stockholm.

Die Insel Utö, auf der im Örtchen Gruvbryggan der Ötillö-Wahnsinn endet, wo 700 Jahre lang Eisenerz abgebaut wurde und wohin einst die Prominenz von Greta Garbo bis August Strindberg in die Sommerfrische fuhr, erhob sich vor 10 000 Jahren am Ende der Eiszeit aus dem Meer. Noch ein paar Hundert Millionen Jahre früher hatten die ersten Wirbeltiere das Wasser verlassen, um sich auch an Land fortzubewegen, und wer André Hook und die 237 anderen Swimrunner beobachtet, der denkt unwillkürlich an die Evolution. So muss es gewesen sein: raus aus dem Wasser, auf allen vieren, langsam aufrichten und dann nix wie losgerannt!

Wer zu langsam ist, wird aus dem Rennen genommen. Er gefährdet sich sonst selbst

Ötillö. Ist schwedisch, bedeutet "von Insel zu Insel" und ist ein Ausdauerrennen: 65 Kilometer laufen, zehn Kilometer schwimmen, in Zweier-Teams. Die Partner sind verbunden durch ein Seil. Die Route führt über 26 Inseln des Stockholmer Schärengartens, über rutschige Felsen, durch unwegsame Wälder, man schwimmt gegen hohe Wellen und starke Strömungen an. Längste Schwimmstrecke: 1780 Meter, weiteste Laufstrecke: 20 Kilometer. 119 Frauen-, Männer- und gemischte Teams zahlen je 1400 Euro Startgeld, hetzen morgens um sechs Uhr los, die Schnellsten brauchen weniger als acht, die Langsamsten mehr als 14 Stunden. Wer noch langsamer ist, wird aus dem Rennen genommen: Niemand soll im Dunkeln schwimmen, zu gefährlich.

Wer sich so etwas antut? Menschen wie die Hamburger André Hook und Wolfgang Grohé, sein Schwager, Menschen, die ihre Tage im Büro verbringen, aber gleichzeitig einen Hang zum Extremen haben. Beide laufen Marathon unter drei Stunden, wissen aber, dass beim Swimrun andere Qualitäten gefragt sind: "Es geht viel um Kontinuität und Wille", sagt Grohé am Abend vor dem Start im 85-Einwohner-Dorf Sandhamn. Gerade hat er die Temperatur getestet, in Badehose. "Wenn man es heute ohne Neopren schafft, ist es morgen früh nicht mehr so schlimm." Es ist ihr dritter WM-Start, bei einem der Qualifikationsrennen im Engadin sind sie Zweite geworden, doch auf einen Podiumsplatz hier spekulieren sie nicht. "Da sind ganz andere Kaliber am Start", sagt Hook und zeigt auf einen Bärtigen am Nebentisch: Faris Al-Sultan aus München, mehrmaliger Sieger des Ironman-Triathlons, darunter auch des wichtigsten Wettkampfs auf Hawaii.

SZ-Karte (Foto: SZ-Grafik)

Als Anders Malm vor 14 Jahren diese alberne Wette einging, hätte er sich natürlich nie träumen lassen, was mal daraus wird. Der Chef des Hotels Utö Värdshus saß nach Feierabend mit drei Angestellten beim Bier, irgendwann befasste man sich mit den Hotelservietten, auf denen die Landkarte der Region gedruckt ist. Die vier erörterten, wer schon auf welcher der rund 26 000 Inseln des Schärengartens war. Sie stellten fest: Da fehlen noch welche. Warum also nicht auf Erkundungstour gehen, aber ohne Boot, nur laufen und schwimmen! Klasse, gleich noch 'ne Runde! Und warum nicht ein Team-Rennen machen? Bis nach Sandhamn, ganz rechts oben auf der Serviette. Ja, genau!

Einzige Regel: In jeder der fünf Bars unterwegs muss gebechert werden, die Führenden dürfen bestimmen, was die Verfolger trinken müssen, der Verlierer zahlt die Zeche. Abgemacht! Beim ersten Stopp gab's Pastis, beim zweiten Calvados und eine Zigarre - der Wahnsinn dauerte 24 Stunden, bei der Revanche im Jahr darauf 21. Zwei Ausdauer-Cracks des schwedischen Adventure Racing Teams hörten von der Wette und bastelten daraus von 2006 an ein Rennformat, das offenbar den Nerv der Zeit trifft: 700 Bewerbern musste man für Ötillö absagen, das längst zur Rennserie geworden ist, in diesem Jahr mit vier Events, 2017 mit sechs und im Jahr darauf mit acht Wettbewerben weltweit. Am 23. Oktober geht es an der Mecklenburgischen Seenplatte über 43 Kilometer von Schloss Rheinsberg nach Wesenberg.

Das Original dürfte schwer zu übertreffen sein. Irgendwann beschloss man, lieber nach Hause laufen zu wollen, und so schwimmrennt die Meute nun von Sandhamn nach Süden Richtung Utö. Morgens um sechs dehnt sich das Startband vor den Ungeduldigen, die bei zwölf Grad und kaltem Wind endlich los wollen. Vom Fährhafen der Party-Insel Sandhamn trippeln die Inselhüpfer vorbei am Kiosk, vor der knuffigen Kneipe Dykabaren links hoch, mitten rein ins autolose Bilderbuch-Schweden, rein in den Wald, über herrlich weiche Tannennadeln, runter zum Strand.

Da wird es dann ernst: 1,7 Kilometer Meer bis zur nächsten Insel Vindalsö. Im Morgengrauen ist das erste Etappenziel nur dank eines Blinklichts auszumachen. Immerhin ist die Zeit so gewählt, dass keins der großen Fährschiffe die Route der Athleten kreuzt, aber ein bisschen verrückt muss schon sein, wer sich wie ein Lemming ins kalte Wasser stürzt. Einige haben in der Tat eine besondere Geschichte.

Die spätere Siegerin im Mixed-Wettbewerb, Eva Nyström, ist erst vor dreieinhalb Monaten Mutter geworden und hat vor dem Rennen noch schnell abgestillt. Im Vorjahr kam die Gewinnerin mit 33 Grad Körpertemperatur ins Ziel. Eine Amerikanerin hatte sich 2015 auf Insel drei schwer am Knie verletzt und doch bis ins Ziel durchgehalten; diesmal bekam sie auf dem sogenannten "pig swim", dem schwierigsten Schwimmabschnitt, Krämpfe in den Beinen und erreichte nur mit Mühe das Ufer - selbstverständlich quälte sie sich auch dieses Mal bis ins Ziel. Und dann ist da noch Göran Wernqvist, der im richtigen Leben Matratzen für Palliativpatienten vertreibt; 62 ist er und damit der Alterspräsident.

Mit 40 hatte ihn die Midlifecrisis zum Joggen getrieben, und vor drei Jahren kam ihm eine Herausforderung wie Ötillö gerade recht. Auf die rechte Wade hat er sich von einem Hells-Angels-Tätowierer die Strecke einimpfen lassen, daneben seine Finisher-Jahre, jeweils mit einem Haken dahinter. Als er mit Partnerin Camilla abends um acht als viertletztes Team in Utö einläuft, setzt der Renndirektor den nächsten Haken. Und das Hamburger Duo? Landet auf Platz 16, nur knapp hinter Al-Sultan. "Geil, dass wir am Faris dran waren", jubelt André Hook, "und das als stinknormale Bürohengste! Fast wie beim Sommermärchen."

© SZ vom 15.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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