Süddeutsche Zeitung

Österreich:Es brodelt im Kaunertal

Der Gepatschferner ist der am schnellsten schmelzende Gletscher Österreichs, 125 Meter hat er innerhalb eines Jahres verloren. Was das für das Leben im Tal bedeutet, vermag noch niemand zu sagen.

Von Helmut Luther

Gebückt tastet man sich in Wanderschuhen über die rutschigen, vereisten Bretter, die einen Pfad über das Eis bilden. Links und rechts, wo die Hände Halt suchen, ist ebenfalls glattes Eis, durch das fahles Dämmerlicht fällt. Genauso über dem Kopf, wo einem von der Decke kaltes Schmelzwasser auf die Haare und in den Nacken tropft. Eben noch brannte die Höhensonne vom Himmel herab. Nun zwängt man sich fröstelnd durch die Gletscherspalte. 100 Jahre alt soll das Eis am Fuß des Weißseeferners laut einer Infotafel sein. Die braunen Hänge ringsum, mitten im Kaunertaler Gletscherskigebiet, sowie die weißen Sonnenschutzplanen über dem Schneehaufen, in den man die künstliche Gletscherspalte gebohrt hat, verraten jedoch, dass vom Weißseeferner, der einst weite Teile des Skigebiets bedeckt hat, nur noch kümmerliche Reste übrig sind. Der benachbarte Gepatschferner hingegen bildet zusammen mit dem Kesselwandferner eine 18 Quadratkilometer große Eisfläche: die größte zusammenhängende Gletscherfläche Österreichs - und leider auch die am schnellsten schmelzende. Seine Zunge, die Richtung Kaunertal herunterhängt, lässt sich in einer gemütlichen Wanderung erreichen.

An einem Parkplatz an der Kaunertaler Gletscherstraße, die hinauf zum Skigebiet führt, beginnt der Naturlehrpfad Gepatschferner. Er gilt als Beispiel für eine touristische Nutzung des Gletschers, ohne der Natur zu schaden. Bemalte Holzstangen zur Pistenmarkierung, die Schaufel eines Schneepflugs sowie ein Klettergarten, in dem viel Betrieb herrscht, zeugen davon, dass der Massentourismus nicht weit weg ist. Doch auf dem Weg zum Gletscher ist es einsam. Der Pfad schlängelt sich zwischen Wasserfällen, die wie Silberfäden über die Felsen herabrinnen, und immer spärlicherer Vegetation steil bergauf.

Philipp Kirschner, Biologe und Mitarbeiter des Naturparks Kaunergrat, zeigt auf die Spuren des Gletschers, der hier längst verschwunden ist: Die Seitenmoräne, auf der die Besucher hinter Kirschner herstapfen, stammt aus der vor 170 Jahren zu Ende gegangenen Kleinen Eiszeit. "Damals gab es noch Prozessionen, um den immer näher rückenden Gletscher durch Bittgebete aufzuhalten", sagt Kirschner. Nun bietet der Tourismusverband Führungen an, um die "Faszination Gletscher" zu erleben.

Der Schwund ist extrem. An Felsen angebrachte Metalltäfelchen mit Jahreszahlen verdeutlichen, wie weit der Gletscher früher gereicht hat. Vor zehn Jahren war die Zunge noch rund 700 Meter länger. "Seit einigen Jahren ist der Gepatschferner der am schnellsten schmelzende Gletscher in Österreich", sagt Kirschner. Einen Rekordschwund von 125 Metern in nur einem Jahr hat der Österreichische Alpenverein für seinen Gletscherbericht 2017 gemessen. Und im diesjährigen Hitzesommer könne man dem Gletscher beim Schmelzen zuschauen, sagt Kirschner: "War man ein paar Wochen nicht mehr hier, muss man einige Kurven höher steigen, um zum Eis zu kommen. Wenn es so weitergeht, sind die sieben Kilometer, die der Gepatschferner momentan der Länge nach misst, in einigen Jahrzehnten aufgebraucht."

Schaubilder auf dem Gletscherlehrpfad erklären, wie Moränen und Gletscherschliffe entstehen und welche Pionierpflanzen dem Eis folgen: etwa Steinbrech, Alpen-Leinkraut oder Johanniskraut. Als die Gruppe Brotzeit macht mit Blick auf die Gletscherzunge in der Ferne und das Gletschertor, aus dem das Schmelzwasser wie eine graubraune Suppe herausschießt, ist auf einmal ein Poltern zu hören: In einiger Entfernung springt ein Felsbrocken, groß wie ein Auto, den Berg herunter, gefolgt von einer Kanonade aus kleineren Brocken. Das komme jeden Tag vor, beruhigt Kirschner, man halte stets genügend Sicherheitsabstand: "Der Berg bewegt sich, weil der Permafrost auftaut."

Was das bedeutet, erkennt man gut auf der Terrasse des Gletscherrestaurants Weißsee. Hier, auf 2750 Metern inmitten des Skigebiets, endet die Panoramastraße. Trotz einer hohen Straßenmaut ist der Parkplatz gut gefüllt: Gletscherskigebiet, heißt es offiziell. Aber das war einmal - im Sommer ist hier schon seit Jahren kein Skibetrieb mehr möglich. Mit 3498 Metern stellt die Weißseespitze die höchste Erhebung in unmittelbarer Nähe des Skigebietes dar. Auf der anderen Seite des Gipfels liegt der vom Skigebiet aus nicht sichtbare Gepatschferner. Auf aktuellen Übersichtsplänen des Skigebiets ist noch ein Seilbahnprojekt bis zum Gipfel der Weißseespitze eingetragen. Dagegen machen Naturschützer schon länger mobil. Mit dem Projekt würde ein bisher unberührter Teil der Ötztaler Alpen erschlossen, mahnt der Österreichische Alpenverein. "Diese Landschaft, von europäischer Bedeutung, ist unbedingt schützenswert und muss frei von allen Eingriffen bleiben", sagt auch Konrad Roider. Der Obmann des Tiroler Heimatpflegevereins kritisiert "den Überbietungswettbewerb im Hochgebirge, der im Widerspruch zu den Herausforderungen des Klimawandels steht". Das Kaunertal ist nur ein Beispiel, was das Wettrüsten von Gletscherskigebieten betrifft. Im benachbarten Pitztal will man eine Seilbahnverbindung nach Sölden bauen inklusive mehrerer neuer Pisten, um das größte Gletscherskigebiet Österreichs zu werden - auch das ist heftig umstritten.

Das Projekt Weißseespitze sei mittlerweile vom Tisch, sagt Beate Rubatscher, Geschäftsführerin der Kaunertaler Gletscherbahn. Der Grund: Es ist nicht genehmigungsfähig, weil es als Neuerschließung eines Gletschers gilt. Und das ist grundsätzlich verboten. Rubatscher unterstreicht aber die wirtschaftliche Notwendigkeit des Skigebietes für das Kaunertal. "Bis in die Sechzigerjahre hat hier große Armut geherrscht." Die vor zehn Jahren neu gebaute Seilbahn auf das Karlesjoch führt auf mehr als 3000 Meter hinauf. Sie habe gleich zehn Prozent mehr Umsatz gebracht. Am Karlesjoch liegt die Grenze zum Langtauferertal in Südtirol. Pläne, von dort aus eine Seilbahn auf die Karlesspitze zu bauen und damit die beiden Skigebiete zu verbinden, liegen wegen Verfahrensfehlern zurzeit auf Eis. Ein anderes Seilbahnprojekt befinde sich aber schon mitten im Durchführungsverfahren, so die Geschäftsführerin, deren Vater Hans Rubatscher Chef der Pitztaler Gletscherbahnen ist und auch hier im Kaunertal investiert: Es geht um die Erschließung des Weißseejochs, 3044 Meter hoch und theoretisch ebenfalls aus dem Langtauferertal mit einem Lift anzubinden. Die auf mehr als 26 Millionen Euro veranschlagte Investition erklärt sie mit dem gnadenlosen Wettbewerb: "Nach drei Tagen auf unseren Pisten fahren die Gäste in andere Orte."

Wie aber sehen jene die Erweiterungspläne, die weiter unten im Tal ihr Auskommen haben? In Vergötschen trinkt Georg Praxmarer im Garten des Cafés Angelika einen kleinen Braunen. Stolz zeigt er auf ein Ensemble ineinander verschachtelter Bauernhöfe auf einer sonnigen Anhöhe: 600 Jahre alt, von ihm persönlich restauriert und jetzt als Seminarhof an Gruppen vermietet. Sämtliche 600 Bewohner des Kaunertals, sagt der Mann mit Wuschelkopf und grau meliertem Vollbart, hätten sich ihren heutigen Wohlstand hart erarbeitet. "Das Skigebiet ist der wirtschaftliche Motor des Tals, ich und andere kleine Vermieter profitieren davon." Cafébesitzer Werner Gfall, der sich dazugesetzt hat, pflichtet ihm bei: Es gebe im Kaunertal keine Bettenburgen, dafür viele familiengeführte Pensionen und Privatvermieter. "Wir haben keine Gewerbegebiete. Weil die Berglandwirtschaft wenig einbringt, gibt es zum Tourismus keine Alternative." Gfall ist Vizeobmann des Vereins Lebenswertes Kaunertal. Man würde von ihm kritische Töne zur geplanten Erweiterung des Skigebiets erwarten. Stattdessen sagt Gfall: Wenn das Projekt genehmigt werde, sei es in Ordnung. "Wir haben hier 97 Prozent Wildnis und 30 Pistenkilometer - ein oder zwei Lifte mehr ändern an der Schönheit des Kaunertales nichts."

Gfalls Gegner sind nicht die Betreiber des Skigebietes, sondern die Tiroler Wasserkraftwerke, die zum bereits bestehenden Gepatschstausee im Tal einen zweiten planen. "Es ist ein Kampf David gegen Goliath." Die lokale Bevölkerung werde am Profit der Stromerzeugung kaum beteiligt, sagt Gfall und zeigt auf die Felswände ringsherum: Dort, wo eigentlich Wasserfälle rauschen müssten, ist alles trocken. "Uns gehört kein Tropfen!"

So führen beide Konflikte, der um das Wasser und jener um weitere Lifte, noch einmal hinauf zum Gletscher. Philipp Kirschner hat die Zunge des Gepatschferners mit seiner Gruppe inzwischen erreicht. Grau, beinahe schwarz und pickelhart ist das Eis, überzogen mit scharfkantigen Rillen. Überall glucksen kleine Bäche. Die Kinder aus der Gruppe blicken gebannt in das bläulich schimmernde Loch, aus dem das Schmelzwasser brodelt. Einige werfen Steine hinein, die lautlos im Getöse versinken. An einem Hang über der Gletscherzunge klettert unterdessen eine weitere Gruppe herum: Wissenschaftler aus Wien, die mit Netzen herabfallende Steine auffangen, um das Auftauen des Permafrostbodens zu erforschen. Was dessen Folgen für das Kaunertal bedeuten und wie man sich am besten darauf vorbereitet, können allerdings auch die Wissenschaftler den Talbewohnern nicht sagen.

Reiseinformationen

Anreise: Mit der Bahn bis Landeck-Zams, weiter mit dem Bus ins Kaunertal, mit dem Auto über Garmisch-Füssen-Fernpass-Landeck. Für die Gletscherstraße bis auf 2750 Meter muss eine Maut bezahlt werden. 24 Euro pro Pkw bis 5 Personen.

Unterkunft: z.B. Hotel Feichtnerhof in Feichten, Übernachtung im DZ mit Halbpension, pro Person 63 Euro, www.feichtnerhof.at; Hotel Edelweiss in Feichten, DZ mit Halbpension pro Person und Nacht 56 Euro, www.hoteledelweiss.com

Gletscherpfad: Von der Bushaltestelle Oberbirg kann man in 1,5 h den beschilderten Pfad bis zur Gletscherzunge wandern, Führungen auf Anfrage, 200 Euro am Tag, www.kaunergrat.at

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SZ vom 23.08.2018/edi
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