Notfall im Flieger:Ist zufällig ein Arzt an Bord?

Wer im Flugzeug vom Passagier zum Patienten wird, muss Glück haben. Nicht alle Fluggesellschaften sind auf Notfälle gut vorbereitet.

Dennis Ballwieser

In zehntausend Metern Höhe auf halbem Weg zwischen New York und München. An Bord des Airbus schlafen Hunderte Passagiere, die Kabinenbeleuchtung ist gedimmt. Da knackt es im Lautsprecher: "Achtung Reisende, wegen eines Notfalls bitten wir Ärzte oder Krankenschwestern, sich beim Kabinenpersonal zu melden."

Erste Hilfe im Flugzeug, iStock

Nicht alle Airlines sind gleich gut auf medizinische Notfälle über den Wolken vorbereitet.

(Foto: Foto: iStock)

Im Halbdunkel stehen drei Passagiere auf. Unter ihnen ein Medizinstudent aus München. Sofort arbeitet er gedanklich Checklisten ab: Wie verhält man sich bei einem Notfall? Was überprüft man zuerst? "Die wichtigste Frage in diesem Moment aber war: Welche Hilfsmittel habe ich zur Verfügung, wenn es ernst ist?", erinnert er sich.

Wer in einem Flugzeug vom Passagier zum Patienten wird, muss Glück haben. Wie gut er versorgt wird, hängt von der Fluggesellschaft ab. Und von den Mitreisenden. In jeder Maschine gibt es einen Erste-Hilfe-Kasten und eine Bordapotheke, wie sie die EU oder die US-Luftfahrtbehörde FAA vorschreiben.

Zudem müssen alle Airlines ihre Flugbegleiter regelmäßig in Erster Hilfe schulen. Für Kurzstreckenflüge gelten andere Regeln als für Langstreckenmaschinen, die nicht überall schnell landen können, wo am Boden ein Krankenhaus verfügbar ist.

Was tatsächlich passiert, wenn ein Passagier ernsthaft erkrankt, hängt meist von der Entscheidung zufällig mitfliegender Ärzte ab. "Unter Medizinern geistern Schreckensgeschichten herum über vermeintliche Hürden bei der Hilfe in der Luft", sagt Michael Sand von der Ruhr-Universität Bochum. Von ihm stammt eine Studie über Notfälle an Bord von Passagiermaschinen (Critical Care, Bd. 13, R3, 2009).

"Aus Angst vor Schadenersatzforderungen solle man besser nichts tun, wird oft behauptet. Das ist Quatsch. Man sollte immer helfen. Falsch ist nur, wenn man nichts tut, das kann unterlassene Hilfeleistung sein."

Sand hat 32 europäische Fluggesellschaften über medizinische Notfälle befragt. Nur vier Airlines verfügten über Daten, die er hätte analysieren können. Lediglich zwei erklärten sich bereit, anonym zur Studie beizutragen.

Ohnmacht ist der häufigste Zwischenfall

Nach Auswertung von mehr als 10000 Notfällen weiß Sand nun, dass der häufigste Zwischenfall an Bord die Ohnmacht ist - dazu kam es etwa 5000-mal. Es folgen Magen-Darm-Beschwerden. In 509 Fällen wurde die lebensgefährliche Diagnose Herzinfarkt gestellt.

Die gefürchteten Thrombosen sind hingegen mit 0,5 Prozent der Fälle sehr selten. Klar ist das allerdings nur für die beiden Airlines, die Daten bereitgestellt haben. "Das ist ein heißes Eisen, über das niemand gerne spricht", sagt Sand.

Der Pilot entscheidet, ob ein Zwischenstopp nötig ist

An Bord des Airbus über dem Atlantik sitzt der Medizinstudent mittlerweile auf dem Boden neben einem Passagier, dem schwarz vor den Augen geworden war. Über eine Nasenbrille bekommt der Patient inzwischen Sauerstoff, seinen Blutdruck misst regelmäßig ein Flugbegleiter.

Der Pilot ist gekommen, um nachzufragen, wie schlimm es ist: Soll die Maschine zwischenlanden? Das bedeutete in diesem Fall einen Stopp im isländischen Reykjavik. Doch so schlimm scheint es aber nicht zu sein, der Flug kann weitergehen.

Bei einem Lufthansa-Flug LH728 nach Shanghai entschied sich der Pilot anders. Ein Passagier klagte über Schmerzen in Brust und Kiefer. Zwar vermutete ein mitreisender Tierarzt einen Infarkt, doch ein Humanmediziner war nicht unter den Passagieren.

Per Satellitentelefon wurde "International SOS" angerufen - die Ärzte am Boden rieten zu einem Zwischenstopp. 40 Minuten später landete die Boeing in Ekaterinburg, nach etwas mehr als einer Stunde lag der Patient auf der Intensivstation der sibirischen Stadt.

Etwa 50-mal im Jahr entscheiden sich Piloten der Lufthansa aus medizinischen Gründen zur Rückkehr oder für einen Zwischenstopp, so das Deutsche Ärzteblatt. Bei mehr als 56 Millionen Menschen, die 2008 mit der Linie geflogen sind, ist das eine geringe Quote.

Medizinische Betreuung vom Boden aus

Die Entscheidung, was zu tun ist, liegt immer beim Kapitän. Für den Fall, dass niemand mit Medizin-Kenntnissen an Bord ist, bieten Firmen wie International SOS oder MASH Hilfe an. "Wir betreiben ein Callcenter, über das der Pilot mit einem Arzt verbunden wird", sagt Harald Becker von MASH in Freiburg.

Schwesterfirma Medifan schult zudem das Kabinenpersonal europäischer Fluggesellschaften. Offenbar helfen die Flugbegleiter-Ausbildungen erkrankten Patienten. "Bei einem Passagier mit Herzstillstand haben von uns ausgebildete Flugbegleiter reanimiert, bis die Maschine gelandet war", sagt Becker. "Obwohl ein Arzt an Bord die Chancen für gering gehalten hatte: Der Patient überlebte."

Airlines sind unterschiedlich gut ausgerüstet

Dass es nicht egal ist, in welchem Flugzeug ein Passagier erkrankt, zeigen Unterschiede in der Ausrüstung. Lufthansa, Air Berlin und der Ferienflieger TUIfly haben in jeder Maschine einen Defibrillator, der bei Herzstillstand einen womöglich lebensrettenden Elektroschock abgeben kann. "Unsere Flugbegleiter werden jährlich geschult, wie sie den benutzen", sagt Jan Bärwalde von Lufthansa.

Zudem gibt es in Lufthansa-Flugzeugen neben Medikamenten einen Arztkoffer mit einer ähnlichen Ausstattung wie im Rettungswagen. "Die Lufthansa ist ein positives Beispiel", sagt Sand.

Dazu gehört auch, dass bei der Lufthansa noch an Bord ein Notfallprotokoll von den Flugbegleitern geschrieben wird, das Patient und Helfer bekommen - in dem steht auch, dass freiwillige Helfer nie mit Schadenersatzforderungen rechnen müssen.

Keine Schadensersatzforderungen an Nothelfer

Ähnliche Regeln gelten bei TUIfly. "Selbstverständlich bekommt niemand Probleme, weil er hilft", sagt TUIfly-Sprecher Jan Hillrichs. TUIfly und Lufthansa nennen aktuelle Zahlen: TUIfly flog 2008 etwa 10,5 Millionen Reisende, dabei kam es zu 600 medizinischen Notfällen. Die Lufthansa spricht von 1600 Fällen Erster Hilfe bei knapp 57 Millionen Passagieren. Dazu gehören leichte Kopfschmerzen bis hin zu Wiederbelebungsversuchen.

Bei der LTU gab es sogar schon eine Geburt, die für Mutter und Neugeborenes glücklich verlaufen ist. Auf dem Weg von Köln nach Istanbul setzten 2003 bei einer Reisenden plötzlich die Wehen ein, ein Medizinstudent half, alles ging gut.

Billigflieger mit weniger Hilfsmittel

Bei manchen Billigfliegern sind hingegen weniger Hilfsmittel an Bord. Das liegt an kürzeren Flugrouten, die meisten Billigflieger bieten Kurz- oder Mittelstreckenflüge an. "Wenn Sie innerhalb Europas unterwegs sind, ist ein Flughafen nie mehr als 15 Minuten entfernt", sagt Oliver Aust von der britischen EasyJet. "Außerdem sind unsere Flüge mit durchschnittlich 90 Minuten kürzer."

Erste-Hilfe-Kasten, eine den Vorschriften entsprechende Bordapotheke und ausgebildete Flugbegleiter hat auch jede Billig-Airline an Bord.

Gemessen an den Passagierzahlen passiert offenbar wenig in der Luft. Um das genau sagen zu können, brauchen Wissenschaftler aber mehr Daten. "Die Vorgaben sind zu lasch, was die Ausstattung in den Maschinen und die Statistiken angeht", sagt Michael Sand. Er wünscht sich Defibrillatoren in allen Passagiermaschinen. Eine solche Regel gilt in den USA.

Und Fluggesellschaften sollten verpflichtet werden, genaue Statistiken zu führen, damit besser vorgesorgt werden kann. Eine Befürchtung Sands ist, dass die Zahl der Zwischenfälle durch immer ältere und kränkere Passagiere zunehmen könnte."Bei 85 Prozent unserer Flüge ist ein Arzt an Bord. Wir haben auch kein Problem mit der Bereitschaft anderer Passagiere, zu helfen", sagt Lufthansa-Sprecher Bärwalde.

Geschenkte Lufthansa-Meilen für Ärzte

Die Lufthansa nutzt zudem ihr Vielfliegerprogramm, um Ärzte zu finden. Die können sich bei der Airline registrieren lassen und bekommen dafür 5000 Meilen Bonus. "Der Flugbegleiter sieht auf der Passagierliste, wo ein Arzt sitzt und als was er arbeitet", sagt Bärwalde. "So kann ein passender Helfer angesprochen werden."

Ein solches System ist die Ausnahme. Die meisten Fluggesellschaften nutzen die Durchsage, wenn das Personal mit einem Notfall überfordert ist.

Zwei Stunden nach einer solchen Kabinendurchsage sitzt auch der Münchner Medizinstudent wieder auf seinem Platz. Dem erkrankten Passagier geht es besser, trotzdem wartet am Boden ein Rettungswagen.

Während die Reisenden in zum vorderen Ausgang drängeln, öffnet sich hinten eine Tür. Fast unbemerkt kommt der Notarzt herein, lässt sich berichten, was im Flug geschehen ist und untersucht den Patienten. Nach wenigen Minuten gibt der Arzt Entwarnung, der Passagier kann aussteigen und seine Reise fortsetzen.

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