Norwegen:Knicks in Boxershorts

Im Land des Skigottes Ull und der Skigöttin Skade sind die Menschen stolz auf ihre Wintersport-Tradition: Die norwegische Provinz Telemark, Wiege des modernen Skilaufs, hat ihre Ursprünglichkeit bewahrt.

Jana Meduna

Der Mann, der damals noch nicht wusste, dass clevere Tourismusmanager mehr als hundert Jahre später einen Helden aus ihm machen würden, schaut skeptisch. Er hat das Haar streng gescheitelt, trägt Schnurrbart, Hemd und Fliege. Er hängt als gerahmte Schwarzweiß-Fotografie im Museum von Morgedal.

Der Mann auf dem Foto heißt Sondre Norheim. Er wurde 1825 in einer Häuslerkate in der südnorwegischen Provinz Telemark geboren, in einer Region, in die Fortschritt und Zivilisation damals noch nicht so recht vorgedrungen waren. Sondre trieb sich als Kind gern draußen herum, am liebsten auf Skiern.

Als er klein war, baute er kleine Schanzen, und als er größer war, schanzte er über die verschneiten Dächer der hölzernen Katen oder marschierte kilometerlang auf Skiern durch die hügelige Einsamkeit der Telemark. Und weil er von seinem Vater das Geschick des Handwerkers geerbt hatte, entwickelte Sondre Norheim den Telemark-Ski aus leichtem Kiefernholz.

Ursprung des Skilaufs

Das Neue daran war die Taillierung, heute würde man Norheims Erfindung Carver nennen. Außerdem erfand er die feste Fersenbindung, bei der Weidenseile den Fuß auf dem Ski hielten. Damit konnte er die Ski besser steuern.

Seinetwegen kommen heute Touristen nach Morgedal. Seinetwegen wurde in dieser abgelegenen Region das olympische Feuer für die Olympischen Winterspiele von Oslo 1952, von Squaw Valley 1960 und Lillehammer 1994 entzündet. Zuletzt von der norwegischen Prinzessin Märtha Louise.

Die Norweger entzündeten das Feuer dort, wo sie den Ursprung des modernen Skilaufs ausgemacht haben, den Ursprung des Skilaufs als Wintersport.

Eivind Strondi hat lange gar nicht gewusst, dass er verwandt mit einem Helden ist. Aber seit das Ski-Museum in Morgedal eröffnet wurde, hat der grobschlächtige Mann schon etliche Touristen zu der Kate in Overbo geführt, in der Sondre Norheim geboren wurde.

Overbo liegt abseits von Morgedal, das ohnehin schon irgendwo im Abseits liegt. Besuch bedeutet ein bisschen Abwechslung für den alten Mann. Eivind Strondi trägt Kniebundhosen und Wanderschuhe, dazu einen Norwegerpulli, auf dem Kopf eine Filzmütze. Zu der Kate geht es bergauf, ein paar hundert Meter, über eine Holzbrücke hinüber.

Wasser rauscht unter einer dicken Eisschicht hindurch. Wie genau Strondis Verwandtschaftsverhältnis zu Sondre Norheim ist lässt sich nicht herausbekommen. Aber es ist ja auch nicht so wichtig. Stattdessen erzählt Eivind von dem großen Skirennen in Christiana, bei dem Sondre Norheim 1868 seine Kiefernski und seine Fahrtechnik weit über die Grenzen der Telemark hinaus bekannt machte.

Der Wettkampf bestand aus einem Riesentorlauf, einem Schanzensprung und einem Langlaufrennen. Sondre Norheim, der Mann aus Morgedal, gewann und die Zeitungen schrieben am folgenden Tag: "Es war etwas Merkwürdiges an seinem Rennen und Gehen auf Skiern, dass man glauben musste, es sei ihm angeboren und für ihn die natürlichste Sache, sich auf Skiern zu bewegen."

Mitte des 19. Jahrhunderts wandelte sich der Skilauf in den abgelegenen Regionen Norwegens vom Transportmittel zum Volkssport. Und so schnallt Eivind Strondi seine Tourenski heute nur noch zum Zeitvertreib an. Für Familienbesuche oder zum Einkauf im Morgedal Senter, einer kleinen Anordnung von zwei Zapfsäulen, einem Coop, einem Hotel, steigt er in sein Auto mit Allradantrieb.

Im Land des Skigottes Ull und der Skigöttin Skade sind die Menschen stolz auf ihre Wintersport-Tradition. In der Telemark gibt es nicht nur schön gespurte, kilometerlange Loipen, sondern auch Skigebiete wie etwa das in Vradal. Beim Blick ins Tal sieht man keine Betonburgen, stattdessen bunte Apartmenthäuschen aus Holz und kleine, unauffällige Hotelanlagen zwischen gefrorenen Seen und Wäldern. Auf den Pisten herrscht kein Trubel.

Die Menschen in der Telemark behaupten von sich: "Wir sind auch impulsiv, wir brauchen nur Zeit, darüber nachzudenken."

Skilehrer Vegard ist auch so ein unaufgeregter Kerl. Im Skigebiet von Rauland, in dem die Abfahrten genau wie Vradal den Charakter von Pisten im lieblichen Allgäuer Voralpenland haben, herrscht wenig Betrieb. Ein Zweier-Sessellift trägt die Telemark-Anfänger nach oben. Sie haben viel Platz auf den Hängen, um hinter Vegard herzuschwingen. Ein Bein immer tief gebeugt, die Ferse vom Ski gelöst. "Je schneller man fährt, desto einfacher", ruft Vegard.

Tatsächlich lässt sich der Telemarkstil schneller erlernen, als vermutet. Kräftige Oberschenkel sind vorteilhaft, um die Technik einen ganzen Tag lang durchzuhalten und sich später auch irgendwann auf die Pisten der Alpen zu trauen, wo die Telemark-Technik als Retrotrend gilt.

Der Deutsche Skiverband veranstaltet Telemark-Weltcups und Telemarkreferent Christian Leicht nennt den Sport "Zehnkampf des Skilaufens", weil er mit dem Riesentorlauf, dem Skispringen und dem Langlauf in Skating Technik alle Disziplinen verbindet, die auch im Fernsehen gut ankommen.

Während die Ski- und Sportartikelhersteller hierzulande dabei sind, den Retrotrend gewinnbringend zu vermarkten, stellt Trevor Dowe ziemlich lakonisch fest, dass er seine handgefertigten Telemarkski eigentlich viel zu billig verkauft.

220 Euro für eine Woche Arbeit, aber, Treor Dowe zuckt mit den Schultern, was soll's? Seine Werkstatt liegt gleich bei der Talstation von Gaustablikk. Das Skigebiet, dem der 1883 Meter hohe, schneebedeckte Berg Gaustatoppen den Namen gab, ist eines der größeren in der Telemark: Ein Sessel- und sieben Schlepplifte, 20 Abfahrtspisten, Höhenunterschied 350 Meter, drei beleuchtete Pisten und dazu ein 80 Kilometer langes Loipennetz.

Zeit für einen neuen Auftrag

Hier gibt es sogar eine 2,5 Kilometer lange Abfahrt mit dem schönen Namen Telemarksvingen. Und wenn Trevor Dowe das Gefühl hat, es wäre an der Zeit für einen neuen Auftrag, zieht er seine traditionellen Boxerhosen an, schnallt die Holzskier unter und schwingt Knicks für Knicks den Abhang hinunter.

"Ich bin froh darüber, dass es immer noch Menschen gibt, die das Handwerk vermitteln können", sagt Trevor Dowe. Der Brite lebt nun schon 23 Winter hier oben im Norden. Eine Menge Zeit, um herauszufinden, wie Hölzer aus Esche, Pinie, Birke oder Eiche über den Schnee gleiten. "Ulmen", sagt Trevor Dowe, während er in seiner Werkstatt ein langes Holzstück in den Schraubstock klemmt, "Ulmen sind wie Doping. Sie rutschen so schnell, dass es fast an Selbstmord grenzt."

Ahorn flutscht widerum besonders gut in nassem Schnee. Die Skispitzen biegt er im Wasserdampf, die Weiden für die Bindungen sucht er zur Sommerzeit im Wald, dann wässert er sie und schabt die Rinde ab - genauso wie Sondre Norheim vor mehr als hundert Jahren.

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